Название: Menschen im Krieg – Gone to Soldiers
Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Жанр: Книги о войне
isbn: 9783867548724
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»Es ist praktisch«, sagte Marlitt bündig. »Es lässt keinen falschen Eindruck aufkommen, denn ich war verheiratet und habe keinerlei Neigung, es wieder zu sein … Was? Mein richtiger Mann? Er war Journalist, aber nachdem sie die Juden aus den Zeitungen hinausgeschmissen hatten, betätigte er sich im Kulturbund. Sehen Sie, uns wurden die Schauspieler und Musiker und Sänger auf die Straße gesetzt, und wir alle wurden nach und nach von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Er begann, kleine Stücke für den Kulturbund zu schreiben. Deshalb haben ihn die Nazis so früh geholt. Die Stücke, sie waren sehr komisch. Alles natürlich in versteckten Anspielungen. Wenn man irgendetwas Direktes sagte, dann kamen sie sofort, und man wurde verhaftet. Wir haben etwas benutzt, was wir den Neuen Midrasch nannten, alles war in Geschichten verpackt, die wir kannten. Er schrieb und inszenierte ein Purimspiel, und wir alle wussten, wer Haman war. Aber ich glaube, das haben selbst die Nazis spitzbekommen.«
Marlitt war einfach zu befragen. Ihr Englisch war ausgezeichnet, und sie bestand darauf, es zu benutzen. »Es ist schwerer, von diesen Dingen auf Deutsch zu reden«, sagte sie fest. Sie sprach trocken, ohne Tränen. Abra begann in ihr eine Frau zu sehen, deren Tränen versiegt waren. »Ja, ich hatte einen Sohn. Das geht niemanden etwas an, der solch einen Tod nicht mit angesehen hat. Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Mein Vater, mein Onkel waren beide in der Reichsvertretung. Das war das Instrument, mit dem wir versuchten, den Nazis eine einheitliche Front zu bieten. Wir hofften immer noch, dass dieser Irrsinn nicht andauern konnte. Eine Regierung, die wahnsinnig war? Wer konnte das glauben? Alles wie gehabt, Propaganda, Übergriffe, aber weiter würde es sicher nicht gehen. Die anderen Mächte würden sicher nicht zulassen, dass die Nazis uns tatsächlich antaten, was sie da ankündigten. Wir warteten immer darauf, dass Hitler anfing, wie eine vernünftige Regierung zu handeln. Er hat jetzt die großen Industriebarone hinter sich, sagten wir uns, sie werden ihn zum Nachgeben zwingen. Die Krupps, die Thyssens, die wollen das Land nicht in Stücke reißen. Wenn sie darauf bestehen, wird er uns in Frieden lassen. Während der Olympischen Spiele schienen sich die Dinge zu lockern. Wir hofften weiter. Immer wieder gingen unsere Freunde oder wir hin und erkundigten uns nach Auswanderungsmöglichkeiten, aber niemand wollte uns ein Visum geben. Die Briten ließen uns nicht nach Palästina und wollten uns nicht in England, und die Vereinigten Staaten wollten auch keine Juden. Aber nach der Kristallnacht hatten wir keine Hoffnung mehr, keine Illusionen. Wir nahmen Reißaus. Wir ließen unsere Toten in der Erde, auf der wir jahrhundertelang gelebt hatten, und nahmen Reißaus.«
Marlitt war plötzlich sichtlich erschöpft. Sie berührte ihre hohe Stirn mit einer blassen Hand und regte sich kurz in ihrem Sessel. Abra verabschiedete sich und hoffte, dass Professor Kahan ihre Fragen eindringlich genug fand. Wenn er ihre getippten Protokolle durchging, wies er oft auf Bereiche hin, wo sie hätte nachhaken müssen. Sie lernte, sich auf dem Terrain zurechtzufinden. Zwar kannte sie nach und nach die Namen der Verbände und Vereine, in denen diese Menschen sich in Deutschland betätigt hatten, bat aber trotzdem jede Informantin, ihr diese Organisation zu erklären. Denn Professor Kahan sagte, über eine Organisation in einem anderen Land gäbe es immer noch mehr zu erfahren, und was die Menschen über eine Gruppierung dachten, wenn sie ihr beitraten, und was die Gruppierung ihrer Meinung nach tat, sei ebenso wichtig wie das, was sie tatsächlich bewirkte.
Er spielte manchmal Fragesteller oder Informant mit ihr und zeigte ihr Wege, die gleiche Frage so zu stellen, dass sie anders klang, oder Wege, angesichts von Verschlossenheit ein Thema zu verfolgen, ohne aufdringlich zu klingen oder bedrohlich zu wirken. Der wichtigste Aspekt von Abras Auftritt – so nannte er das – war, naiv und guten Willens und interessiert zu erscheinen und so, als verfolge sie keinen tieferen Zweck. »Eine Studentin, eine gutherzige, wohlmeinende amerikanische Studentin ist das, was Sie sind, und ist das, was Sie ihnen vorführen.«
»Das ist also die Summe dessen, was ich bin?«, fragte sie ziemlich pikiert.
»Das ist doch gar keine üble Person, oder?« Oscar Kahan hatte die Angewohnheit, eine Frage mit einer Frage zu erwidern.
Sie war froh, nicht ihn befragen zu müssen, denn sie konnte sich inzwischen gut vorstellen, wie er ihre Befragung durchkreuzen würde. Er hatte ihre Neugier in den letzten Monaten hinreichend gewetzt. »Ich bin politisch nicht so naiv, wie Sie annehmen –«
»Setzen Sie sich darüber mit mir auseinander, aber beweisen Sie es nicht den Zielpersonen. Die brauchen es, sich in ihrem Wissen ein wenig überlegen zu fühlen. Diese Menschen sind Flüchtlinge, müssen Sie bedenken, verloren in einem fremden Land und aus einem gesellschaftlichen Netz gerissen, das sie verstanden oder zu verstehen meinten. Nichts bedeutet hier das Gleiche. Nichts wird auf die gleiche Art getan. Sie sind wieder Kinder. Gestatten Sie ihnen, Sie ein wenig zum Kind zu machen, während Sie die Befragung steuern – kein dummes Kind, sondern ein aufgeschlossenes, aufgewecktes, aber naives Kind, das verstehen möchte.«
So sieht er mich, dachte sie, und war plötzlich von kalter Wut gepackt. »Professor Kahan, warum verlangen Sie von mir, dass ich so viele Fragen stelle nach der Straße, in der sie gewohnt haben, nach der Schule, die sie besucht haben, nach den genauen Anschriften, den Namen der Friedhöfe, wo ihre Eltern begraben liegen, all dem?«
Er beugte sich mit warmem, verschwörerischem Lächeln über den Schreibtisch. »Und was meinen Sie, warum wir diese Fragen stellen, Miss Scott?«
»Eine Möglichkeit wäre, dass Sie meinen, wenn die Menschen sich präzise, konkrete Einzelheiten ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis rufen, dann werden auch die anderen Angaben präziser sein?«
»Na bitte. Sie haben doch Ihre eigene Antwort.«
»Wenn ich meine, zwei und zwei sind fünf, dann habe ich auch meine eigene Antwort.«
»Aber wir haben es mit dem Subjektiven zu tun und wollen sowohl dem Befragten als auch dem Fragesteller die Befangenheit nehmen, nicht wahr?«
Sie versuchte sich an einer Nachahmung seiner gerunzelten Stirn und seines fragenden Lächelns. »So?« Sie wartete, doch er verlegte sich ebenfalls darauf, als wartete er auf eine Erläuterung. Er war doch recht raffiniert, ihr Professor, was sie überraschte, denn ihr erster Eindruck war der eines offenen, neugierigen, warmen und ganz unbefangenen Mannes gewesen. Das alles mochte er sein, und gleichzeitig war er ungemein verschlossen. Sie überlegte, ob er bei den Frauen, denen er nahe stand, offener war – wer diese Frau oder diese Frauen nun auch sein mochten. »Ich habe noch eine Frage. Mir fällt auf, dass wir den deutschen politischen Flüchtlingen eine Reihe von Fragen über die Wirtschaftslage in Deutschland stellen, die wir unseren jüdischen Flüchtlingen nicht vorlegen. Warum?«
»Wir gehen davon aus, dass die Lebensbedingungen für die Juden deutlich anders sind als für den Rest der Bevölkerung und dass wir von den Juden wenig über die deutsche Wirtschaft erfahren können, da sie zwangsweise davon ausgeschlossen werden. Wir können von einem Juden nicht erfahren, ob Butter knapp ist.«
»Professor Kahan, wenn wir ein politologisches Forschungsprojekt über die Interdependenzen und internen Strukturen deutscher politischer Gruppierungen in den dreißiger Jahren durchführen, warum ist uns dann wichtig, ob zurzeit in Deutschland die Butter knapp ist? Und bitte fragen Sie mich diesmal nicht, was ich denke.«
»Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Meinen Sie, wenn mir die Arbeit Spaß macht, sollte ich nicht so viele Fragen stellen?«
»Ich meine, macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Ja.«
»Gut.« Er strahlte sie an. »Haben Sie die Frage der Butterknappheit in Ihrem Freundeskreis СКАЧАТЬ