Название: Muster für morgen
Автор: Frank Westermann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Andere Welten
isbn: 9783862871834
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Ich hatte mich ängstlich von ihnen ferngehalten, sie hatten aber nirgends einen Zwischenfall provoziert.
Plötzlich kam mir der Gedanke, wie es wohl nachts hier aussehen würde. Ob solche Banden dann die Gegend kontrollierten?
Aber ich wusste ja nichts über ihre Motive und Ziele. Vielleicht nahmen sie nur bestimmte Geschäfte und Leute aufs Korn oder waren sogar völlig harmlos.
Ich sollte mich davor hüten, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen, dachte ich, und der Mangel an aktuellen Informationen machte mir wieder zu schaffen.
Während ich immer weiterging, wurde mir klar, dass dies eigentlich das dringendste Problem war. Ich musste erfahren, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit hier ereignet hatte, um wieder handlungsfähig zu werden. Dazu war es notwendig, alte Bekannte aufzutreiben und sie auszufragen. Ein paar abgehörte Funksprüche, als wir uns der Erde näherten, reichten da nicht aus.
Mit einem neuen Ziel vor Augen war ich jetzt wesentlich sicherer. Ich war nun auch überzeugt, dass ich weiter nicht auffiel, und Fahndungsplakate oder -holos hatte ich noch nirgends gesehen.
Meldungen über uns Terroristen konnten bisher nur über Tri-Di gelaufen sein. Und wer prägte sich schon angesichts einer Fernsehsendung genau fremde Gesichter ein?
Da ich mich hier überhaupt nicht auskannte, musste ich zunächst weiter ins Zentrum kommen. Ich hielt nach einer U-Bahn-Station Ausschau und testete dort angekommen am Fahrkarten-Automat gleich die Münzen, die ich von Sucherin bekommen hatte. Eine Anzahl fiel einfach durch, aber ein paar hatten noch ihren Wert und so kam ich zu einem Fahrschein (Schwarzfahren wäre doch sehr riskant gewesen, zumal ich nicht wusste, welche Kontrollen es gab).
Ich stellte dann fest, dass die Station nicht nur als Bahnhof benutzt wurde, sondern es eine Reihe gewaltiger Anti-Grav-Fahrstühle gab, die anscheinend die Arbeiter und Arbeiterinnen in die unterirdischen Fabriken brachte. Eine Gruppe von ihnen, die wohl Feierabend hatte, strömte mir entgegen: blasse Gesichter und abgemagerte Gestalten, alle in eine blaue Montur gekleidet. Sie sprachen kaum miteinander und strebten rasch dem Ausgang zu. Das waren bestimmt keine Leute, die nur auf Knöpfe drückten und Computerprogramme überwachten. Die übelste Arbeit wurde wie immer von den ärmsten Leuten ausgeführt. Da waren sogar Maschinen und Roboter zu teuer.
Ich schüttelte mich und trat auf den Bahnsteig. Leise zischte kurz darauf die Röhrenbahn heran. Natürlich wurde sie vollautomatisch gesteuert. Die Atmosphäre drinnen war so, wie ich sie in Erinnerung hatte: die Leute saßen stumm auf den zerschlissenen Plastikbänken, teilweise kleinformatige Zeitungen lesend, einige hörten Nachrichten- oder Musikspulen an. Hier sah ich auch zum ersten Mal einen großen Anteil Schwarzer, die wohl ebenfalls von irgendeiner Drecksarbeit kamen. Auswanderer von den Südlichen Inseln, die hier für einen Hungerlohn schuften mussten. In ihrer Heimat wären sie wahrscheinlich in den Slums umgekommen.
Eine Gruppe Jugendlicher fiel durch ihre Kleidung und ihr Aussehen auf. Sie waren alle stark geschminkt und trugen eine Art Glitzerklamotten. So etwas änderte sich eben alle paar Monate.
Die Modeindustrie musste ja auch ihren Umsatz machen.
Die Stille wurde andauernd durch Werbesprüche unterbrochen, die über Lautsprecher in den Wagen blökten. Dazu leuchteten Reklametafeln auf, von denen aber ein großer Teil zerstört worden war. In einer Ecke hing sogar ein Tri-Di-Apparat – ebenfalls – zerdeppert.
Allmählich kamen mir die Haltepunkte bekannt vor und ich überlegte, wo ich aussteigen sollte. Plötzlich schoss mir die Frage durch den Kopf, ob meine Eltern wohl noch lebten. Aber was nützte ein Treffen mit ihnen? Wir hatten uns schon lange nichts mehr zu sagen gehabt, immer nur gegenseitige Anmache ... Wahrscheinlich hatten sie die ganze Zeit angenommen, dass ich längst tot war. Die Hetzjagd auf mich als Terroristen würde ihnen einen ganz schönen Schock versetzen. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass mein Vater sofort die Cops benachrichtigen würde, wenn er wüsste, wo ich mich aufhielt. Die würden sowieso früher oder später ins Haus kommen, um rauszukriegen, ob ich mich dort gemeldet hatte.
Nein, das hatte also keinen Sinn. Die erste, die mir sonst einfiel, war Flie. Ich beschloss, zu ihrer alten Wohnung zu gehen, wo sie mit Lucky und anderen gewohnt hatte. Wahrscheinlich würde ich sie dort nicht antreffen, denn sie hatte ja zuletzt als Dolmetscherin gearbeitet und da hatte sie wohl in eine andere Umgebung umziehen müssen. Aber vielleicht konnte ich über die Nachmieter etwas erfahren. Obwohl, nach neun Jahren ...
Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich zwei Flies kannte: die erste, die jetzt in der anderen Realität war, und die zweite, die ich auf den Südlichen Inseln wiedergetroffen hatte. Ich hatte lange Gespräche mit Sucherin über dieses Phänomen geführt, und sie war ziemlich entsetzt über diese Verwirrung der Existenzebenen, wie sie es nannte. Sie gab sich selbst einen Teil der Schuld daran, weil sie meinte, damals als Beobachter uns einen unvollständigen Ebenenwechsler gegeben zu haben. Das Modell der damaligen Regs hatte einiges durcheinandergebracht.
Nicht erklärt war damit meine selbstständige Rückkehr in die alte Realität. Ich selbst hatte einmal zaghaft die Vermutung geäußert, dass es sich hier gar nicht um meine Ursprungsrealität handelte, sondern um eine geringfügig neue. Sucherin war davon nicht überzeugt, weil ein Wechsel in eine dritte Realität noch schwieriger zu erklären war. Sie meinte, dass ich durch meine Rückkehr das ohnehin angeknackste Ebenen-Gefüge weiter in Unordnung gebracht hätte und dadurch diese Doppelpersonen heraufbeschworen hätte. (Wie dabei eine so ähnliche Flie und gleichzeitig eine so unähnliche Winnie entstehen konnten, wusste sie allerdings auch nicht).
Auf jeden Fall waren für sie diese Vorgänge beunruhigend, wenn nicht sogar gefährlich, und sie wollte sie auch deshalb im Auge behalten. Ich konnte ihr nicht helfen, weitere Vorfälle dieser Art zu verhindern, da ich diese Realitätsversetzung nicht bewusst steuern konnte. Ich rechnete aber nicht damit, dass es mir noch einmal passierte.
Schon als ich in die Nähe der Straße kam, in der Flie gewohnt hatte, wurde mir klar, dass ich hier weder sie noch irgendwelche Nachmieter finden würde. Das ganze Viertel war saniert worden, d.h. die alten Häuser abgerissen und durch teure neue Wohnblocks ersetzt worden.
Mir blieb nur eins übrig: die Firma aufzusuchen, für die sie gearbeitet hatte. Zum Glück fiel mir der Name wieder ein und ich fragte einen Robot-Kommunikator nach der Adresse und machte mich auf den Weg. Die Firma existierte also noch.
Ich ging eine ganze Strecke zu Fuß Richtung City, um noch mehr von der Umgebung mitzukriegen. Einmal blieb ich stehen, um die Mittagsnachrichten, die aus einem Elektronik-Geschäft auf die Straße übertragen wurden, mit anzuhören. Ich war erleichtert: über uns und unsere Flucht wurde noch nichts durchgegeben. Wahrscheinlich waren sich die Regs noch nicht einig, was sie genau veröffentlicht haben wollten. Wenn sie die allgemeine Jagd auf uns freigaben, konnte es gut passieren, dass voreilige Cops oder Roboter uns töteten. Und daran schienen sie ja nicht unbedingt interessiert zu sein. Sie wollten ja irgendwelche Informationen von uns. Ich musste etwas lachen. Da schonten sie uns wegen dieser merkwürdigen Barriere, von der wir selbst nicht wussten, was das sein sollte.
Durch die Nachrichten bekam ich immerhin einigermaßen etwas mit von der politischen Weltlage – natürlich aus offizieller Sicht. Doch selbst diese Berichte klangen ziemlich düster: es gab wohl mit Hilfe der Renen-Technik errichtete Stützpunkte auf dem Mars und Mond, die für Nachschub an Idustrie-Rohstoffen sorgen sollten. Aber das war wohl ein sehr kostspieliges Unternehmen, und es klappte hinten und vorne nicht. Die Preise waren enorm gestiegen und einige Gebrauchsgüter wurden zumindest auf den Inseln knapp, so dass es dort schon zu kleineren Aufständen СКАЧАТЬ