Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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      Damit musste der Kantor das angesehene Amt eines Vorbeters, das er bisher wahrgenommen hatte, abtreten und sich mit der Rolle eines Organisten und Vorsängers begnügen. Auch die Leitung des Cheders21, der Thoraschule, fiel nun in die Verantwortung des niederländischen Rabbis. Die Leitung eines Cheders war ein einträgliches Amt, denn die Eltern mussten für ihre Sprösslinge Schulgeld zahlen. Von seinen früheren Ämtern blieb Goldstein am Ende nur das eines Mohels22, eines Fachmanns für rituelle Beschneidungen, übrig.

      Von einem Kantor durfte man nicht nur eine gute Stimme und eine gründliche Kenntnis der Liturgie erwarten, sondern auch eine repräsentative Frömmigkeit und ein einwandfreies Verhalten. Entsprechend hatten sich auch die Mitglieder seiner Familie aufzuführen. Ohne dies ausdrücklich auszusprechen, erwartete Nathan Goldstein, dass sich seine polnischen Gäste als fromme Juden gebärdeten. Er achtete darauf, dass die vorgeschriebenen Gebetszeiten von allen Hausgenossen eingehalten wurden. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem gemeinsamen Abendgebet am Vorabend des Schabbats.

      Im Hause Goldstein tauchte Joshua in die chassidische Frömmigkeit ein, wobei der Kantor sich als strenger Lehrmeister und Joshua als gelehriger Schüler erwies. Anders als sein Bruder Mendel, der nie um eine Ausrede verlegen war, um sich vor einer Gebetsübung zu drücken, begleitete Joshua den Onkel öfter zum Schacharif23, dem Morgengebet, in die Synagoge. Wenn er morgens mit dem Kantor in seinem schwarzen Kaftan und dem Hut aus Zobelfell auf dem Kopf loszog, begegneten ihnen nirgends feindselige, sondern höchstens verwunderte Blicke. Nie gab es Beschimpfungen oder Anpöbelungen, wie Joshua es in Polen erlebt hatte.

      In der Synagoge beobachtete Joshua, wie der Onkel den weißen Gebetsmantel anlegte und sich die Gebetsriemen um Arme und Stirn band, bevor er die Schriftrollen aus dem heiligen Schrein holte. In der Synagoge fanden sich morgens einige alte Männer ein, um mit dem Kantor die Psalmen, das Schma Jisrael24, und das Achtzehnbittengebet, das Schmone Esre, anzustimmen.

      Wenn die Männer sangen, wippten sie mit dem Oberkörper hin und her, als wären sie angetrunken. Die Männer hielten Bücher mit Goldrand in ihren Händen. Joshua hätte sich gerne eines mit nach Hause genommen, aber Onkel Nathan meinte, dafür sei er noch zu klein, weil er noch nicht einmal lesen könne.

      Der Onkel besaß eine warme Baritonstimme. Sein Gesang war sehr gefühlsbetont. Offenbar legte er wenig Wert auf die Bedeutung des gesungenen Liedes, denn viele Gesänge beschränkten sich auf ein einziges Wort oder einige Silben, die der Kantor manchmal bis zur Ekstase wiederholte. Die Geräusche, die er dabei ausstieß, erinnerten Joshua an das Gebrabbel und Glucksen von Säuglingen.

      Als Joshua einmal nach dem Sinn dieser Übung fragte, belehrte der Onkel ihn, dass der Mensch sich dem Allmächtigen am ehesten nähern könne, wenn er seine Gebete als kindliches Gestammel vortrage. Das ständige Kopfnicken und das Schaukeln mit dem Oberkörper hülfen der Seele, das Alltägliche zu verdrängen und mit dem Allmächtigen eins zu werden.

      Joshua war von dem, was er in der Synagoge hörte und sah, beeindruckt. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, plapperte er einzelne Silben, die er in der Synagoge aufgeschnappt hatte, nach, wobei er nach Art frommer Juden mit dem Oberkörper schockelte25. Roro hielt das alles für Firlefanz. Er mochte den Kantor und seine aufgeblasene Sippe nicht und machte dies auch gegenüber Joshua deutlich: Als dieser ihn nach den Gründen fragte, sagte Roro, er habe eines Tages mitbekommen, wie der Schuster bei seiner Frau darüber lästerte, dass der jüngste Sohn des Metzgers ein unreines Tier als Schmusetier habe. Daran sähe man, wie es um die Frömmigkeit des Metzgers und seiner Familie bestellt sei.

      * * *

      Unterdessen war Ariel Rozenberg bemüht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, was die Voraussetzung für die Eröffnung eines Gewerbes war. Da Nathan Goldstein, der die belgische Staatsangehörigkeit besaß, ihn als Schustergesellen eingetragen und ihm so ein Bleiberecht erwirkt hatte, konnte er sich bald auf die Suche nach einer passenden Immobilie machen.

      Tagelang streifte er durch die Innenstadt und die Peripherie. Anders als in Polen wurden in Belgien Mietangebote, Hauskäufe und Geschäftsübergaben nicht über Inserate in Zeitungen oder Agenturen angeboten, sondern durch Aushänge an Türen und Fenstern. Wenn Rozenberg ein interessantes Objekt entdeckte, schob er einen Brief in den Briefkasten, der sein Anliegen erklärte, in der Hoffnung, dass man darauf reagierte.

      Die wirtschaftliche Situation war für Geschäftsgründungen nicht gerade günstig. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 war die Arbeitslosigkeit innerhalb weniger Jahre drastisch angestiegen: von 15.000 Arbeitssuchenden auf 213.000. Gleichzeitig sanken die Löhne. In den 30er Jahren verdiente ein Arbeiter weniger als sein Vater oder Großvater. Im Lütticher Kohlerevier mussten sogar einige Zechen schließen. Gleichzeitig wurden moderne Kokereien eingeführt, die weniger Personal erforderten, was wiederum zu erbitterten Streiks führte.

      Eines Tages entdeckte Rozenberg im Lütticher Vorort Seraing in der Rue du Buisson ein Aushängeschild für eine Geschäftsübergabe. Es handelte sich um eine Pferdemetzgerei. Da er der Landessprache noch nicht mächtig war, nahm er am nächsten Tag Mendel mit, um mit dem Inhaber zu verhandeln. Der Betreiber sagte, er wolle sich zur Ruhe setzen und sein Geschäft übergeben. Der Verkauf von Pferdefleisch sei nämlich stark zurückgegangen.

      Die Schuld daran gab er den Briten, die im Krieg in Belgien gekämpft hatten. Sie wären ausgesprochene Pferdenarren gewesen und hätten es nicht ertragen, dass solch edle Geschöpfe in die Kochtöpfe wanderten. Die hiesigen Essgewohnheiten hätten sie als Kannibalismus bezeichnet. Mit der Zeit habe die Polemik Wirkung gezeigt. Seit dem Krieg schien das süßlich bis säuerlich schmeckende Fleisch, das doch so nahrhaft sei, selbst den Gruben- und Stahlarbeitern, die nicht wählerisch waren, nicht mehr zu munden.

      Der Standort der Metzgerei kam Rozenberg gelegen, denn Seraing lag zehn Kilometer vor den Toren Lüttichs und bedeutete eine räumliche Distanz zu seinem aufdringlichen und übermächtigen Vetter. Seraing zählte 60.000 Einwohner, darunter viele italienische und polnische Gastarbeiter. Ihre Bewohner nannten ihre Stadt kurz und knapp »Srè«. Dieses »Srää« war keine schöne Stadt, denn selbst im Ortskern gab es Schmelzöfen und Fabrikhallen. Jedes Viertel führte ein Eigenleben, hatte einen eigenen Marktplatz und eine Geschäftsstraße. Die Rue du Buisson lag in einem Viertel, das im Volksmund Quartier Verrière hieß, weil dort viele Glasmacher lebten, die in der Kristallerie du Val St-Lambert arbeiteten.

      Die Stadt Seraing war weit über Belgien hinaus ein Begriff, denn hier stand die Wiege der industriellen Revolution auf dem Kontinent. Am Rathaus hatte man eine Tafel angebracht mit einem Ausspruch des Schriftstellers Victor Hugo, der während seines Exils aus Frankreich die Stadt besucht hatte. »In Seraing stehen die Kathedralen der Neuzeit«, stand auf der Tafel. Der englische Industriepionier John Cockerill hatte im vorigen Jahrhundert das frühere Sommerschloss der Fürstbischöfe erworben und es in eine Eisenhütte verwandelt. Später kamen ein Stahl- und ein Walzwerk, eine Kesselschmiede sowie eine Maschinenfabrik hinzu. In Seraing wurden die allerersten Lokomotiven Europas gebaut.

      Rozenberg wurde sich mit dem Ladeninhaber handelseinig. Im September 1936 kaufte er das Reihenhaus mitsamt seiner Einrichtung. Den Kaufakt tätigten Käufer und Verkäufer in einer Lütticher Kanzlei, die einem Notar Van den Berg gehörte. Da es ihm an Kapital mangelte, sah Rozenberg sich genötigt, für den Hauskauf einen Kredit aufzunehmen, was nur möglich war, weil Nathan Goldstein bereit war, für ihn zu bürgen.

      Den Kredit nahm Rozenberg bei der Privatbank Nagelmackers auf. Nathan Goldstein, der kein ungebildeter Mensch war, klärte seinen polnischen Vetter darüber auf, dass diese Bank nicht irgendeine Bank sei sondern etwas Besonderes. Sie stamme aus dem Jahre 1747. Die Familie Nagelmackers zähle in ihren Reihen bedeutende Bankiers und Politiker und Pioniere des Eisenbahnbaus, die einen weltweiten Ruf genössen.

      Der Lütticher Filialleiter hieß Jean-François Stevens und war – wie Goldstein СКАЧАТЬ