Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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СКАЧАТЬ sich besser als jede andere darauf, einen traditionellen Käsekuchen aus geronnenem Lab herzustellen. Dazu gab es Kaffee oder Tee und für die Männer ein Glas Rotwein.

      Wenn alle satt waren, sagte Hanna Goldstein: »Lasst uns mameloschen30!« Das war das Zeichen, einfühlsame Lieder aus der polnischen Heimat anzustimmen. Sie begannen meist mit religiösen Weisen, die von Welt- und Gottesschmerz getragen waren. Danach folgten Liebes-, Wiegen- und Kinderlieder. Zu vorgerückter Stunde wurden lustigere Lieder angestimmt, die aus dem Repertoire der Klezmorim31 stammten, jüdischen Musikanten, die von Schtetl zu Schtetl zogen und auf Hochzeiten, Festen und an Feiertagen aufspielten.

      Diese Bänkelsänger genossen bei frommen Juden nicht den besten Ruf, weil sie gerne chassidische Gesänge parodierten und sich nicht scheuten, Zigeuner in ihre Reihen aufzunehmen.

      Eines Tages brachte Fred ein Grammofon mit, das er ohne Wissen der Eltern gegen seine Briefmarkensammlung eingetauscht hatte. Nun konnten sie auf einmal die volkstümlichen Weisen mit musikalischer Begleitung hören. Fred hatte auch Schallplatten mit Melodien aus jiddischen Musicals besorgt. Die kamen aus Amerika und lösten bei den jungen Leuten Begeisterung aus. Als Fred einmal Anstalten machte, zu den Klängen eines Swings mit seiner Schwester Bad-Sebah zu tanzen, griff der Kantor ein. Er verbat sich diesen Unsinn. Seitdem war das gottlose Ding aus den Familientreffen verbannt.

      Wenn Ariel Rozenberg ein paar Gläschen Wein getrunken hatte, konnte er sich von einer anderen, lustigen Seite zeigen. Für großes Gelächter sorgten seine nachgestellten Kundengespräche, die er in einem entsetzlichen Kauderwelsch aus Polnisch, Jiddisch und Wallonisch vortrug.

      Er kannte eine Vielzahl von jiddischen Witzen. Mit großem Vergnügen nahm er die Chassidim32 aufs Korn, was seinem frommen Vetter böse aufstieß. Einer handelte von einem gewissen Moische, der jeden Tag zu Gott betet, damit er ihn reich macht. »Herr, lass mich im Lotto gewinnen«, betet er inständig. So geht das über viele Wochen, bis ihm Gott antwortet: »Moische, gib mir a Chance. Kauf dir a Los.«

      Ein anderer Witz handelte von galizischen Juden, die den Vatikan besuchen und den Papst sprechen wollen. Der Schweizer Gardist, der gerade Wache schiebt, sagt, sie sollten ihr Anliegen schriftlich einreichen. Sie antworten, das sei nicht möglich, weil es sich um eine private und dringende Angelegenheit handele. Nach langer Diskussion werden sie zum Papst vorgelassen. Der fragt sie, was ihr Anliegen sei. »Entschuldigen der Herr Papst«, sagt der Wortführer, »kennen Sie nicht den Jesus Christus und seine Jünger, bittschön?« – »Aber ja doch«, erwidert der Papst, »die kenn ich!« – »Da wäre nämlich noch eine unbezahlte Rechnung für ein Abendessen.«

      Neben den Chassidim und den Christen waren die Yekkers33, die Deutschen, eine bevorzugte Zielscheibe seines Spotts. Ariels Witze begannen meistens mit der Redewendung: »Ein armer Schwob sucht einen weisen Rabbi auf …« Einer handelte davon, wie ein Jude einen deutschen Metzger aufsucht, auf einen Schinken zeigt und sagt, er hätte gern diesen fetten Fisch dort. »Aber das ist doch ein Schinken«, antwortet der Schwob und will ihn belehren, dass es Schweinefleisch sei. »Nun geben Sie mir schon den Fisch«, unterbricht ihn der Jude, »mich interessiert nicht, wie er heißt!«

      * * *

      Bei den Wahlen von 1936 hatte die Sozialistische Arbeiterpartei in Wallonien, dem industriellen Herz des Landes, über 40 Prozent der Stimmen geholt. In Seraing, einer Hochburg der Linken, regierten sie schon lange, aber die Kommunisten waren ihnen auf den Fersen und stellten mit sechs Abgeordneten ein Viertel aller Sitze. Von den Linksparteien erhofften sich die Migranten bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Juden eine baldige Einbürgerung und eine Überwindung von Diskriminierungen.

      Es waren unruhige Zeiten. Wie in anderen Städten gab es auch in Seraing Aufmärsche und Kundgebungen. Unter den Freiwilligen, die über die Avenue de la Concorde paradierten, um mit den Internationalen Brigaden in den spanischen Bürgerkrieg zu ziehen, waren auch Juden. Sie trugen rote Halstücher, ballten ihre Fäuste und sangen die Internationale.

      Schon von Natur aus vorsichtig, war Rozenberg als Geschäftsmann darauf bedacht, sich aus der Tagespolitik herauszuhalten, umso mehr als er nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung besaß. Dass er in Belgien weder an Parlaments- noch an Gemeinderatswahlen teilnehmen durfte, störte ihn nicht, weil er am politischen Gezänk sowieso nicht interessiert war. Das schade dem Geschäft, pflegte er zu sagen. Auf Fragen der Kundschaft nach seiner politischen Meinung gab er an, in diesen Dingen als Pole nicht bewandert zu sein.

      Rozenberg verordnete auch den Söhnen politische Abstinenz. Er duldete nicht, dass sie sich einer Jugendorganisation anschlossen, weil die alle weltanschaulich gebunden waren. Auch die zionistischen Jugendgruppen, die am Sabbat in der Synagoge eifrig Werbung machten, waren ihm nicht geheuer. In seiner Furcht vor Vereinnahmung verbot er seinen Söhnen sogar, am Sonntag das Haus des Volkes in Seraing zu besuchen, obwohl dort kostenlose Filmvorführungen stattfanden. Er vermutete dahinter ein Ränkespiel der marxistischen Parteien, um neue Anhänger zu ködern und die Seelen unschuldiger Kinder mit linken Parolen zu vergiften.

      Bei den geselligen Treffen im Familienkreis galt die Regel, nicht über Politik zu reden. Dieses Tabu wurde immer öfter durchbrochen, weil die große Politik gewaltsam ins Leben der Menschen eingriff.

      Auf einmal standen die finsteren Pläne der Nationalsozialisten im Mittelpunkt des Interesses. Die deutsche Propaganda sprach von einer jüdischen Weltverschwörung, obwohl es in Deutschland nur eine halbe Million Juden gab. In vertrauter Runde wurden die Nationalsozialisten nie bei ihrem Namen genannt, denn »Nazi« bedeutet im Hebräischen »Prinz« und war ein Ehrentitel des obersten Richters im Sanhedrin34. Statt von Nazis sprach man deshalb von Swastikas35, von Hakenkreuzlern. Auch der Name Adolf Hitler wurde nie ausgesprochen. Man sprach lediglich von »diesem Schmock da«, einem Wort, mit dem man einen Tölpel oder einen Menschen mit unangenehmen Eigenschaften umschreibt.

      Während die Frauen sich häuslichen Themen widmeten, begannen die Männer nun immer öfter und offener über die hohe Politik zu fachsimpeln. Mendel und Joshua saßen still dabei, um andächtig zuzuhören, was da besprochen wurde. Eines Tages schaltete sich unerwartet Nathans Frau in die Diskussion ein. Sie sagte unumwunden: »Macht euch doch nichts vor, die Deutschen haben nur das eine Ziel, die Juden zu vernichten.«

      Zunächst herrschte Überraschung, dass eine Frau es wagte, sich in einer Runde zu Wort zu melden, die Männern vorbehalten war. Nathan, dem die Sache peinlich war, raunzte sie an, sie solle sich um die Gäste kümmern und nicht um Dinge, von denen sie nichts verstehe. Aber Hanna ließ nicht locker: »Sie haben nur das eine Ziel. Sie wollen uns umbringen.« Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Als sie wieder in der Küche war, meinte ihr Mann, seine Frau sei in Gedanken immer noch in Polen und nie so richtig in Belgien angekommen.

      Nach dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes und der Besetzung der restlichen Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland strömten viele deutschsprachige Juden ins Land, die schlimme Dinge berichteten. Allen Juden in Belgien war damit klar, was ihnen blühte, wenn ein Krieg ausbrechen sollte und die Deutschen ihn gewinnen würden.

      Auch die Nachrichten, die sie aus Polen erreichten, gaben Anlass zur Sorge. Die Juden, die dort immerhin zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten, wurden angesichts der internationalen Spannungen als »fünfte Kolonne« diffamiert. Die antisemitischen Maßnahmen wurden verschärft, mit dem Ziel sie zur Emigration zu treiben. Die Juden wussten nicht mehr, wohin sie sich überhaupt noch wenden sollten. Sie saßen in der Falle.

      Die polnische Regierung blieb bemüht, das gute Verhältnis zum Deutschen Reich, das der Staatsgründer Józef Piłsudski gestiftet hatte, aufrecht zu erhalten. Der Marschall hatte einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abgeschlossen, obwohl er sich keine Illusionen über die Natur des Regimes und die strategischen Ziele der Nationalsozialisten machte. Nach seinem Tod im Jahre 1935 verschlechterten sich die Beziehungen. Ein zentraler Streitpunkt zwischen СКАЧАТЬ