Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

Серия:

isbn: 9783898019002

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СКАЧАТЬ abgeriegelt war, konnte sie die Hilferufe der verzweifelten Passagiere hören, die auf der Reling standen. Sie war danach ganz aufgewühlt. Als sie daheim davon erzählte, meinte ihr Vater nur, er habe schon den richtigen Riecher gehabt, als er das Angebot der NS-Behörden zur Auswanderung ausschlug.

      Im Sommer 1939 luden die Meyers die Rozenbergs für ein Wochenende nach Antwerpen ein. Sie wollten sich für die freundliche Aufnahme in Seraing bedanken. Anfangs waren Mendel und Joshua von der Aussicht, ein Wochenende im Hause des Konsuls zu verbringen, nicht sonderlich erbaut. Joshua war schlechter Laune, weil sein Vater ihm verboten hatte, Roro mitzunehmen. Er versuchte, den Hasen darüber hinwegzutrösten, indem er darauf hinwies, dass Petsy der Teddybär, mit dem Roro sich in Bremen angefreundet hatte, mit seinem Herrchen nach London verzogen war.

      Der Besuch in Antwerpen verlief erfreulicher als erwartet. Da die Meyers nicht weit von der Centraal-Station wohnten, holten der Konsul und seine Gattin die Gäste persönlich am Bahnhof ab.

      Rund um den Bahnhof lag das Diamantenviertel. Der Handel mit Edelsteinen war fest in jüdischer Hand. Seit dem 19. Jahrhundert hatte die Diamanterie jüdische Händler und Diamantenschleifer aus aller Welt nach Antwerpen gelockt. Nach dem Krieg hatte sich die Zahl der Juden versechsfacht.

      Meist handelte es sich bei den Zugewanderten um orthodoxe Juden, die sich weitgehend von ihrer Umwelt abschotteten. Vom Rat der Großen Synagoge hatten sie verlangt, dass rund um das Diamantenviertel ein gesicherter Bezirk, ein Eruv38, errichtet würde, damit sie sich am Sabbat auch außerhalb des Hauses frei bewegen konnten, ohne Gefahr zu laufen, mit Ungläubigen und unreinen Dingen in Berührung zu kommen. Da eine Mauer oder ein Zaun nicht vorstellbar waren, kamen die Rabbiner auf den Gedanken, rund um das Bahnhofsviertel einen Bindfaden spannen zu lassen, der es in eine koschere Zone verwandelte.

      Als Meyer mit seinen Gästen durch die Vestingsstraat ging, kreuzten sie orthodoxen Juden, die aus der Synagoge kamen und schnellen Schrittes nach Hause liefen. Ariel Rozenberg, die die Aschkenazim39 aus Polen kannte, klärte den verstörten deutschen Cousin darüber auf, dass ultra-orthodoxe Juden immer in Eile seien, weil sie fürchteten, unterwegs abgelenkt und aufgehalten zu werden und dadurch die Ankunft des Messias zu verpassen. Die Begegnung mit den Orthodoxen in ihren schlabbrigen Mänteln und den breiten Pelzmützen war dem Konsul sichtlich unangenehm. Kein Wunder, sagte er, dass diese Figuren den Judenhass nährten.

      Gerda Meyer machte gegenüber ihrer Freundin keinen Hehl daraus, dass sie sehr unter der Trennung von ihrem Sohn litt. Aus seinen Briefen hatte sie herausgelesen, dass auch der kleine Emil Heimweh hatte. Anders als die jüdischen Mädchen, die leicht Pflegeeltern gefunden hätten, wären die Jungen, die schwer zu vermitteln waren, in London hängen geblieben und in Internate gesteckt worden. Die Zustände dort wären nicht erbaulich. Jüdische Kinder würden wegen ihres deutschen Akzentes ständig gehänselt. Gerda Meyer klagte, sie habe ihren Mann gebeten, ihren Sohn nach Belgien zu holen, da er hier nichts zu befürchten hätte, aber ihr Mann habe davon nichts hören wollen. Offenbar misstraute er dem Frieden, in dem sich die meisten Menschen seit dem Münchener Abkommen wähnten.

      Den großbürgerlichen Lebensstil aus den Bremer Tagen hatten die Meyers aufgeben müssen. Statt eines Herrenhauses bewohnten sie nun eine Etagenwohnung. Abgesehen davon, dass die Jungen bei Tisch wieder den ungebrochenen Hochmut und den jüdischen Selbsthass des Oheims ertragen mussten, war der Ausflug für sie ein unvergessliches Erlebnis.

      Nachmittags besuchten die Jungen mit Hedwig den Zoologischen Garten. In malerischen Gehegen, die altägyptischen Bauten nachempfunden waren, konnten sie Elefanten, Löwen und Giraffen bewundern. Am meisten faszinierte Joshua eine Waldantilope, die verborgen im kongolesischen Regenwald lebte und erst vor wenigen Jahren entdeckt worden war. Während der lange Hals des Okapis dem einer Giraffe glich, erinnerten die gestreiften Schenkel und Oberbeine an ein Zebra.

      Die Nacht verbrachten die Rozenbergs in einem nahen Gasthof, wobei Meyer es sich nicht nehmen ließ, die Rechnung zu begleichen.

      Am nächsten Morgen machten alle gemeinsam einen ausgedehnten Stadtbummel. Mit der Straßenbahn ging es zunächst zur Keyserlei, einer belebten Geschäftsstraße, wo es das höchste Haus Europas zu bestaunen gab. Die 87 Meter hohen Boeren­toren waren Sitz einer Kreditanstalt. Weil diese Meyers Hausbank war, besaß er einen Passierschein, der es ihnen erlaubte, mit einem Aufzug auf das Dach zu gelangen, wo man einen wunderbaren Blick auf den Fluss, den Hafen und die Altstadt hatte. Joshua und Mendel waren begeistert.

      Danach unternahmen sie eine Bootsfahrt durch den Hafen, »dem größten Güterhafen der Welt«, wie der Konsul mehrmals betonte. Sie staunten über die riesigen Stückgutfrachtschiffe, die im Schlepptau kleiner Lotsenschiffe die Schelde hinauf fuhren, um ihre Ladung in den Docks zu löschen, um danach wieder den Fluss hinunter zu dampfen und Waren in alle Welt zu transportieren.

      Den Tag beschlossen sie in einer Hafenkneipe, wo Joshua und Mendel Bekanntschaft mit der Leibspeise der Belgier machten: Miesmuscheln mit Fritten. Die Eltern hatten beide Augen zugedrückt, denn Schalenfrüchte sind den Juden eigentlich verboten. Auch die Kartoffelstäbchen waren in Schweinefett gekocht. Obwohl nichts von dem Gericht dem jüdischen Speisekodex, dem Kaschrut, entsprach, aßen alle mit großem Appetit.

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