Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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СКАЧАТЬ belgo-polonaise« ersetzte: In kleinerer Schrift stand darunter: Inhaber Ariel Rozenberg. Nun war es für alle ersichtlich, dass sie im Gelobten Land angekommen waren.

      Kaum im Geschäft musste Rozenberg feststellen, dass er sich den örtlichen Essensgewohnheiten anpassen musste, wenn er überleben wollte. Dass der Verzehr von Pferdefleisch rückläufig war, wusste er bereits. Aber anders als in Lodz, wo es viele strenggläubige Juden gab, die nach koscherem Fleisch verlangten, gab es deren in Lüttich und Umgebung nur eine Handvoll. Die wenigen Rechtgläubigen, die die Speisegebote beachteten, hatten die finanziellen Mittel, um sich in Brüssel oder Antwerpen Fleischwaren, die den Kaschrut26-Vorschriften entsprachen, zu besorgen. Rozenberg musste sein Warenangebot den Wünschen der Kundschaft anpassen.

      Bei den ortsansässigen Wallonen, den flämischen Tagelöhnern und seinen polnischen Landsleuten stand das Hausschwein ganz oben auf dem Speisezettel. Das bedeutete, dass er vor allem treifes, nach jüdischen Vorstellungen unreines Fleisch anbieten musste. In der »boucherie belgo-polonaise« gab es neben Pferde- und Rinderfleisch bald auch Schweinefleisch in allen Variationen: Schweinshaxen, Schweinsohren und Bratwürste, den Römerbraten und polnische Delikatessen wie geschmorte Schweineleber und Schweinerippchen eingelegt in Honig.

      Anfangs bot Rozenberg in einer separaten Theke noch koscheres Fleisch an. Da dies von der Kundschaft nicht honoriert wurde, stellte er das Angebot bald ein. Fortan gab es solche Ware nur noch auf Bestellung oder zu hohen jüdischen Feiertagen. Die erforderlichen Schächtungen führte Rozenberg an der belgischen Gesundheitsbehörde vorbei im Innenhof seines Hauses durch.

      Mit dem Angebot von Schweinefleisch, dass Rozenberg zu Roros Empörung an Feiertagen um Kaninchen und Tauben erweiterte, verbesserte sich seine finanzielle Situation zusehends. Zumindest reichte es, um die Schulden bei der Bank und dem deutschen Vetter abzustottern.

      Während im Hause Goldstein am Sabbat Grabesruhe herrschte, war in der »Boucherie belgo-polonaise« am Samstag reger Betrieb. Als der Kantor vernahm, dass der Vetter seinen Laden am Sabbat offen hielt und die Dreistigkeit hatte, unreines Fleisch anzubieten, dachte er anfangs, Rozenberg sei meschugge27 geworden. Er machte ihm bittere Vorwürfe und nannte ihn einen Chammer, einen dummen Esel. Er sagte, er solle sich schämen, um des schnöden Mammons willen die Gesetze Israels und die Vorschriften der Thora zu missachten. Er appellierte an seine Selbstachtung und erinnerte ihn daran, dass er »a jiddischen Kopp« habe.

      Als das alles nichts half, sagte er ihm in Anwesenheit seiner Frau und seiner Söhne ins Gesicht, er führe sich auf wie ein Goy28. Joshua wusste nicht, was das war. Mendel erklärte ihm, das sei das hebräische Wort für »Heuschrecke!«. Es sei das schlimmste Schimpfwort, das es gebe, und gelte für Menschen, die ein lasterhaftes und törichtes Leben führten.

      Auf die Vorwürfe des Kantors erwiderte Rozenberg, er könne es sich nicht leisten, seine Kundschaft zu verprellen, wenn er überleben wolle. Die meisten Arbeiter könnten sich nur einmal die Woche einen Braten leisten, und das sei eben der Schweinsbraten am Sonntag. Er versuchte, den Vetter milde zu stimmen, indem er darauf hinwies, dass sie daheim durchaus die Speisevorschriften Moses beachteten und seine Frau am Sabbat, wenn er in seinem Laden und die Jungen in der Schule wären, das kleine Oratorium in Seraing in der Rue du Marais aufsuche. Das alles ließ der Kantor nicht gelten. Er drohte mit dem Entzug der Bürgschaft, aber Rozenberg wusste, dass das nur eine leere Drohung war.

      Dass sie samstags in die Schule mussten, gefiel den Jungen. Der Besuch der Synagoge hätte bedeutet, dass sie ihre besten Klamotten anziehen mussten, was wiederum zur Folge gehabt hätte, dass andere Unternehmungen am Nachmittag nicht infrage kämen. Das einzig Erfreuliche am Sabbat war das gute Essen am Vorabend. Die Mutter legte dann eine weiße Tischdecke auf und holte das beste Geschirr aus dem Schrank. Nachdem der Vater den siebenarmigen Leuchter angezündet und den Kiddusch, den traditionellen Segensspruch, gesprochen hatte, gab es gewöhnlich Tscholent, ein leckeres Eintopfgericht mit Fleisch, Bohnen, Graupen und Kartoffeln. Die Mutter bereitete es schon am Donnerstag vor, weil es mehrere Stunden bei geringer Hitze garen musste.

      An hohen Feiertagen wie an Neujahr oder am Versöhnungstag besuchten alle gemeinsam die Synagoge – auch auf die Gefahr hin, dass der Kantor nachher mit dem Vater wieder Tacheles29 reden würde. Nicht nur an seinen Geschäften, sondern auch an der Erziehung seiner Kinder störte sich der fromme Vetter. Er warf Ariel vor, seine Söhne sähe man nur selten im Cheder zum Studium der Thora. Er sei mit seinen Söhnen viel strenger verfahren. Der Metzger war versucht zu erwidern, davon sei nicht mehr viel zu spüren, wenn er beispielsweise an den vorlauten Fred denke, der nicht eben ein Muster von Frömmigkeit sei. Aber er unterließ es, weil er den Streit nicht auf die Spitze treiben wollte.

      Die Streitereien belasteten Joshua, weil er öfter zu hören bekam, dass derjenige, der die Gebote Moses nicht befolgte, mit Höllenfeuer bestraft würde. In seiner Fantasie sah er den Vater schon in Gehinnom, in der jüdischen Hölle, schmoren. In den Cheder gingen sie nur selten. Joshua hatte die Talmud- und Thoraschule auch deshalb in schlechter Erinnerung, weil man dort nichts Nützliches und Vernünftiges lernte. Die meiste Zeit verbrachten sie damit, die lange Liste der Gebote Gottes aus den Sieben Büchern Mose auswendig zu lernen. Es gab deren 613: 248 Gebote und 365 Verbote. Während Mendel auf Anfrage die wichtigsten auflisten konnte, tat Joshua sich unendlich schwer damit.

      Trotz der unablässigen Kritik Goldsteins änderte Rozenberg nichts an seinem Geschäftsgebaren. Als der Kantor eines Tages wieder zu einer seiner üblichen Tiraden ausholte, riss dem Metzger der Geduldsfaden. Er sagte ihm, er solle sich nicht so aufspielen und es unterlassen, anderen ständig die Moral zu predigen. Er solle sich lieber an die eigene Nase fassen. Das Schusterhandwerk, das er betreibe, sei auch nicht gerade koscher. Denn wer totes tierisches Material verarbeite, stünde in der Gemeinde nicht unbedingt in hohem Ansehen. Nach diesem Schlagabtausch wurde der Kantor ziemlich kleinlaut und unterließ für einige Zeit seine Attacken.

      Am Sonntag, wenn die Metzgerei geschlossen blieb, machte die Familie einen Spaziergang, der meist entlang der Maas führte. Er endete in einer Gastwirtschaft, wo es ein kühles Bier und eine selbst gebraute Limonade gab.

      Soweit Joshua sich erinnern konnte, wurde dieses Ritual nur einmal anlässlich des Geburtstags der Mutter unterbrochen, als der Vater allen eine Schifffahrt spendierte. Von der Anlegestelle des Dampfers am Schloss von Seraing ging es die Maas hinab nach Visé. Dort gab es eine Insel mit einem Ausflugslokal, wo man Kuchen essen, Zwergziegen streicheln und Hühner und Enten füttern konnte. Die Kinder durften Tretboot fahren und auf einem Kettenkarussell durch die Luft schweben.

      Damit die Streitereien nicht die Eintracht der Familien Goldstein und Rozenberg trübten, dafür sorgten die Mütter, die darüber wachten, dass bei den geselligen Abenden, die einmal in der Woche abwechselnd in Lüttich oder Seraing stattfanden, nicht gestritten wurde. Joshua und Mendel liebten diese Treffen, weil sie dann bis spät abends herumtollen konnten.

      Ihr Idol war der 15-jährige Fred. Fred war ein Tausendsassa, ein vorlautes Bürschchen, das den starken Mann markierte. Er prahlte gern mit seinen Streichen und brüstete sich mit amourösen Abenteuern. Wenn er glaubte, die Luft sei rein, zog er ein Päckchen Zigaretten der Marke Boule d’Or aus der Hosentasche, zündete eine an und machte einen Lungenzug. Einmal stachelte er Mendel an, es zu versuchen. Mendel wurde dabei so übel, dass er sich übergeben musste.

      Wenn sie ungestört waren, holte Fred eine Illustrierte hervor, die »Paris-Hollywood« hieß, und in der Fotos von halbnackten Frauen in anzüglichen Posen zu sehen waren. Er war auch der stolze Besitzer einer großen Sammlung von Piccolos, schmalen Comic-Heftchen, die »Sigurd«, »Akim«, »Fulgor«, »Kit Carson« oder »El Bravo« hießen. Es waren Groschenhefte, die bei allen Jungen begehrt waren und auf dem Schulhof unter der Hand getauscht wurden. Es galt dabei vorsichtig zu sein, denn die Lehrer betrachteten die Hefte als Schundliteratur. Wenn sie Schüler damit ertappten, gab es eine schallende Ohrfeige und die Heftchen wurden konfisziert.

      Die СКАЧАТЬ