Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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СКАЧАТЬ zu seinen Kunden zählen. Wie Rozenberg es mit Siegmund Meyer vereinbart hatte, richtete der Metzger neben seinem laufenden auch ein Sperrkonto ein, auf das er die monatlichen Raten für das bei ihm geliehene Geld einbezahlte.

      Das Reihenhaus war um die Jahrhundertwende erbaut worden. Im Erdgeschoss war neben der Haustüre ein großes Schaufenster. Hinter dem Metzgerladen befanden sich die eigentliche Schlachterei und ein Vorratsraum. Im Obergeschoss gab es drei Zimmer und im Dachgeschoss zwei weitere Kammern. Das Haus war mit allem Komfort ausgestattet. Anders als in dem Mietshaus, das sie in Lodz bewohnt hatten, wo es nur einen Wasserkran im Flur gegeben hatte, verfügten alle Schlafzimmer über fließendes Wasser. Statt eines Plumpsklos im Hof gab es auf halber Treppe zwischen Erd- und Obergeschoss in einem Erker ein Wasserklosett. Es schwebte wie ein Schwalbennest über dem Innenhof. Auf dem stillen Örtchen war es recht gemütlich und Joshua verbrachte dort viel Zeit, vor allem wenn er sich vor häuslichen Arbeiten drücken wollte.

      Das Höfchen wurde bald zu Mendels und Joshuas bevorzugtem Spielplatz. Hier konnten sie ungestört mit ihren Zinnsoldaten spielen oder in einem vom Vater gebastelten Holzkasten Sandburgen bauen, ohne dass die Nachbarn Einblick hatten. Joshua kam eines Tages auf die Idee, dort ein Terrarium einzurichten. Bald sammelte er in der Umgebung alles, was da kreucht und fleucht.

      In seinem Privatzoo gab es Raupen, Regenwürmer, Schmetterlinge, Heuschrecken, Blattläuse, Marienkäfer und andere Insekten. Als Käfige dienten alte Einmachgläser, die ihm die Mutter überlassen hatte. Joshua fütterte sie mit Gras und Blattwerk. Er verbrachte viele Stunden damit, das Treiben der Tierchen zu beobachten, sodass sein Bruder ihn spöttisch nach einem berühmten Naturforscher Professor Joshua Picard nannte.

      Wie in der alten Heimat herrschte auch in der neuen eine klare Arbeitstrennung zwischen Vater und Mutter. Während Ariel Rozenberg seinen Geschäften nachging, schaltete und waltete seine Frau Elsa im Hause nach Gutdünken. Ihr oblag die Erziehung der Söhne. Ariels Verhältnis zu seinen Söhnen war eher pragmatischer Natur. So gut wie möglich ging man sich gegenseitig aus dem Weg.

      Das einzige private Vergnügen, das der Vater sich gönnte, war das Trompete blasen. Das Instrument hatte er gegen alle Widerwärtigkeiten bis nach Belgien gebracht. Nachdem er eine Weile alleine gespielt hatte, spürte er das Verlangen einer Blaskapelle beizutreten. Da es für ihn undenkbar war, bei einer Kapelle, die unter der Fahne der katholischen Kirche auftrat, mitzumachen, trat er schließlich der Harmonie »Polonia« bei, obwohl die meisten Mitglieder überzeugte Kommunisten und Trotzkisten waren.

      Beim Einzug ins neue Heim überraschte Rozenberg die Familie mit einem Röhrenradio. Das Rundfunkgerät erhielt einen Ehrenplatz auf der Nähmaschine in der Wohnküche, die Leewi Goldstein der Mutter günstig auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte. Die Mutter häkelte ein Deckchen und stellte rund um das Radio Familienfotos und zwei Blumentöpfchen auf, sodass alles wie ein kleiner Hausaltar aussah. Von nun an war man über Kurzwelle mit der weiten Welt verbunden. Am Sonntagabend gab es im Radio die Sportresultate, die am Montag in der Schule eifrig kommentiert wurden.

      * * *

      Die ersten Jahre in Belgien waren glücklich und unbeschwert. 1937 wurde Joshua eingeschult. Die Gemeindeschule war nach dem Pädagogen und Lokalpolitiker Léon Deleval benannt und lag in der gleichnamigen Straße. Als sich der erste Schultag näherte, versuchte die Mutter, ihm klarzumachen, dass er nun ein großer Junge sei und es an der Zeit wäre, sich von seinem Spielkameraden zu verabschieden. Bisher hatte sie geduldet, dass er sein Stofftier überall mitnahm und wie ein Lebewesen behandelte. Nun sei es an der Zeit, solche Kindereien abzulegen. Auf keinen Fall dürfe Roro mit in die Schule. Das schicke sich nicht.

      Joshua wollte davon nichts hören. Gegen den Rat der Mutter schmuggelte er den Hasen in seinem Schulranzen ins Klassenzimmer. Als Schulkameraden ihn entdeckten, gab es Schmähungen und sogar Handgreiflichkeiten, sodass Joshua um Roros Leben fürchten musste. Danach hielt er es für klüger, ihn daheim zu lassen.

      Während Joshua das Einmaleins und das Alphabet lernte, saß Roro mürrisch und untätig daheim. Abends beschwerte er sich bei Joshua, dass er sich langweile und aus dem Radio den ganzen Tag über Schlager und Schnulzen von Luis Mariano, Toni Rossi oder Ray Ventura anhören müsse, von denen ­Joshuas Mutter nicht genug bekam. Joshua schlussfolgerte daraus, dass Roro wissbegierig war. Um ihn zu beschäftigen, gab er ihm Papier und Malstifte, damit er sich zerstreuen konnte. Nach Schulschluss schaute Roro Joshua bei den Hausaufgaben über die Schultern. Auffallend war, dass er ständig an Klugheit und Verstand zunahm.

      Die ersten Wochen waren für die Brüder Rozenberg schwierig, weil sie daheim nur Jiddisch sprachen, in der Schule aber Französisch und auf dem Pausenhof Wallonisch gesprochen wurde. Aber anders als in Polen, wo sie als Juden auf die hinteren Schulbänke verbannt und von den Lehrern weitgehend ignoriert worden waren, waren sie hier willkommen. In der Masse der Einwanderer und Wanderarbeiter fielen sie nicht auf. Antisemitismus gab es in Wallonien schon deswegen nicht, weil es kaum Juden gab. Die einzigen Kinder, die auf dem Schulhof gehänselt wurden, waren kleine Flamen, die als »dumme Bauerntrampel« beschimpft wurden und es daher vorzogen, auf dem Schulhof unter sich zu bleiben.

      Mendel entwickelte sich zum Klassenprimus. Der Schulträger entsandte ihn als seinen Vertreter auf interschulische Wettbewerbe, von denen er meist mit einem Preis, etwa mit einem Lexikon oder einem Globus zurückkehrte. Die wurden von der Mutter auf einem Regal in der Wohnküche ausgestellt. Joshua bewunderte seinen Bruder grenzenlos, weil ihm das Lernen so leicht fiel. Mendel hatte eine ruhige Art, die Respekt einflößte, was ihn unter seinesgleichen als natürlicher Anführer empfahl. Für Joshua war er ein unerreichbares Vorbild. Dabei hatte er selber auch gute Schulleistungen vorzuweisen. Bezüglich seiner Zensuren lag er im oberen Mittelfeld.

      Zur Belohnung für ihr gutes Zeugnis durften die Söhne sich zum Jahresende in einer Buchhandlung ein Buch aussuchen. Joshua entdeckte ein Märchenbuch mit schönen Bildern, das von einer Hasenschule handelte. Darin waren putzige Langohren abgebildet, die sich wie Menschen benahmen. Die Hasenkinder hatten ein hübsches Zuhause und gingen morgens zur Schule auf eine Waldlichtung. Wie andere Kinder spielten und rauften sie und trieben allerlei Schabernack. Wie im echten Leben wurden sie zur Bestrafung in eine Ecke gestellt, wo ihnen Schulmeister Lampe die Ohren langzog.

      Als Roro das Buch sah, war er begeistert. Immer wieder schaute er sich die bunten Bilder mit den hübschen Häschen an. Da die Mutter ihnen abends im Bett Geschichten aus dem Hasenbuch vorlas, konnten sie vieles auswendig aufsagen. Vor allem die gruseligen Verse mit dem Fuchs waren Roro im Gedächtnis geblieben, weil Joshua sie gerne benutzte, um ihm Angst zu machen: »Von dem alten Fuchs, dem bösen, wird erzählt und vorgelesen, wie er leise, husch, husch, husch, schleicht durch Wiese, Feld und Busch.«

      Ein Kapitel handelte vom Osterhasen. Es bestätigte Roros Annahme, dass der Feldhase nicht nur eine noble Herkunft, sondern auch eine besondere Bestimmung hatte. Das habe, so erklärte Joshuas Mutter, mit dem Osterfest zu tun. Bis dahin hatte Joshua wie alle polnischen Kinder geglaubt, dass der Storch es war, der den Kindern bemalte Eier in vorbereitete Nester legte. In Belgien erzählte man sich hingegen, dass die Kirchenglocken am Karfreitag nach Rom zögen und am Ostersonntag schwer beladen mit Ostereiern zurückkehrten. Nun stand in dem Buch aber schwarz auf weiß, dass es die Hasen waren, die sich die Eier in den Hühnerställen besorgten, sie bunt bemalten und im Gras versteckten.

      Das Häschenbuch hatte unerwartete Folgen. Roro beschloss, es den putzigen Häschen gleichzutun und sich weiterzubilden. Da es in der Nachbarschaft keine eigene Hasenschule gab, beschloss er, sich Lesen, Schreiben und Rechnen im Selbststudium anzueignen. Joshua war etwas überrascht, welch seltsame Wünsche sein Plüschhase äußerte, war dann aber sichtlich stolz auf den Wissensdurst seines Spielkameraden und besorgte ihm das nötige Lehrmaterial.

      Roro hatte nun keine Langeweile mehr, denn er studierte ununterbrochen. Er wollte das Alphabet beherrschen, um in dem Heft, das Joshua ihm gegeben hatte, seine Gedanken und Beobachtungen für СКАЧАТЬ