Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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СКАЧАТЬ begehrte.

      Als er im Schein einer Petroleumlampe erkannte, dass es sich um Männer, Frauen und Kinder handelte, schloss er das Fenster, stieg die Treppe hinunter und bat die erschöpften Wanderer einzutreten. Er hatte offenbar erkannt, dass es sich um Flüchtlinge handelte, sprach das aber mit keinem Wort an. Er entschuldigte sich nur wegen der Flinte, mit der er ihnen gedroht hatte. Man könne in diesen schlechten Zeiten nicht vorsichtig genug sein. Es gebe genügend Strolche, die sich nachts in der Gegend herumtrieben.

      Während er ein Feuer im Herd anzündete, kam eine Frau im Schlafrock hinzu und reichte den Frauen Handtücher und Decken für die Kinder. Für jedes Kind gab es einen Becher Milch. Bald strömte der Duft von echtem Bohnenkaffee durch die Stube, ein Genuss, den es in Deutschland schon lange nicht mehr gab.

      Wie alle anderen waren auch Mendel, Joshua und Roro von dem Marsch sehr mitgenommen. Sie waren mehrmals hingefallen und hatten sich blutige Schrammen geholt. Unter Roros linken Arm war eine Naht geplatzt, sodass Stroh hervorquoll. Als die Mutter den bedauernswerten Zustand des Hasen sah, tröstete sie Joshua, indem sie versprach, die Blessuren mit ein paar Nadelstichen zu behandeln. Nach einem ordentlichen Bad in der Wanne werde Roro wieder ganz der Alte sein.

      Der Bauer eröffnete ihnen, dass sie auf Reinhardshof seien, einem Weiler im Hohen Venn, der seit 1920 zu Belgien gehöre. Er bot ihnen an, sie in die nächste belgische Stadt zum Bahnhof zu geleiten. Von dort könnten sie problemlos ins Innere des Landes reisen. Ob dieser Ankündigung begann eine Frau vor Freude und Erleichterung heftig zu schluchzen. Sie wollte der Bäuerin die Hände küssen, was diese aber zu verhindern wusste. Was sie täten, sei selbstverständlich, sagte die Frau.

      Die Bauersleute machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Der Bischof von Lüttich habe schon lange vor dem braunen Gesindel gewarnt, ereiferte sich der Hausherr. In Zeiten, da Deutschland von einem hergelaufenen Landstreicher und einer Bande gottloser Burschen regiert werde, würden sie allen helfen, die verfolgt würden – ganz egal um wen es sich handele.

      Als sie am frühen Morgen loszogen, machte Joshua drei weitere Bauernhöfe in der Dämmerung aus. Mit der aufgehenden Sonne wurde es wärmer, und das Moor begann nach den starken Regenfällen der vergangenen Nacht wie eine Waschtrommel zu dampfen. Aus Furcht einer Zollstreife zu begegnen, führte der Bauer sie mitten durchs Moor. Als Wegweiser dienten ihm einige verwachsene Moorbirken und die eine oder andere windschiefe Eberesche. Als sich die Wasserrinnen zu einem Bachlauf sammelten, folgten sie diesem aus dem Sumpfland hinaus bis in dichte Fichtenwälder.

      Nach einigen Stunden erreichten sie, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein, eine Stadt, die am Saum des Hertogenwaldes lag. An staunenden Passanten vorbei zog die bunte Truppe schnurstracks zum Bahnhof. Dort verabschiedeten sich die Flüchtlinge von ihrem Führer. Als einige dem Bauern Geldscheine zustecken wollen, lehnte der energisch ab. Er habe nur seine Christenpflicht getan. Dann verschwand er, ohne seinen Namen zu hinterlassen.

      * * *

      Am frühen Abend erreichte die Familie Rozenberg Lüttich. Als die Jungen die vielen Lichter und Leuchtreklamen vor dem Bahnhof sahen, glaubten sie sich wirklich im »Gelobten Land«: Sie hatten es geschafft. Zur Feier des Tages leistete der Vater sich ein Taxi. Er winkte eine der Limousinen, einen Peugeot 402 L, herbei und bat den Chauffeur, sie in die Rue du Parc zu bringen. Als Mendel und Joshua über den breiten Boulevard d’Avroy fuhren, kamen sie sich wie Staatsgäste vor.

      Die Familie Goldstein bewohnte ein solides geräumiges Haus in der Nähe des Parks de la Boverie. Der Empfang war überaus herzlich. Nachdem vor Wochen jeglicher Kontakt abgebrochen war, waren die Goldsteins in Sorge gewesen, ob den polnischen Verwandten die Flucht nach Belgien gelungen war. Mit seinem fusseligen Bart und den langen Schläfenlocken glich der Kantor den galizischen Juden, die Joshua aus Lodz kannte. Wie es die chassidische Tradition verlangte, trug auch Hanna, seine Angetraute, einen bodenlangen schwarzen Rock, eine hochgeschlossene Bluse und eine Perücke.

      Nathan Goldstein und seine Frau boten ihnen unbegrenzte Gastfreundschaft an: Sie gehörten schließlich zur Familie und die »Mischpoche15« ist den Juden heilig. Sie sollten so lange bleiben, bis sie etwas Eigenes, Dauerhaftes gefunden hätten Rozenberg war dafür sehr dankbar, weil er wusste, dass ein fester Wohnsitz bei der Suche nach einem Domizil und bei Behördengängen, die anstanden, um ein Gewerbe zu eröffnen, hilfreich sein würde. Vorübergehend bezogen sie im ersten Stock des Hauses zwei Zimmer.

      Nacheinander trudelten die Kinder des Kantors ein, die neugierig auf die ferne Verwandtschaft waren. Die Familienverhältnisse der Gastgeber waren für Außenstehende schwer zu durchschauen.

      Aus Nathans erster Ehe stammten vier Kinder: Leewi, der älteste Sohn, war ein Hausierer, der von Haus zu Haus zog und mit Knöpfen, Reißverschlüssen und Garn handelte. Er war ein lebenslustiger Geselle und hatte ein ausgefallenes Hobby: er züchtete Kanarienvögel. Hirsch, der zweitälteste Sohn, war der Stolz des Vaters. Er studierte im vierten Semester Zahnmedizin an der Universität. Die Tochter Bad-Sebah war Verkäuferin in der Schuhabteilung eines großen Kaufhauses und mit Aaron Rubinstein, einem Grubenarbeiter, verlobt. Elias, der jüngste Sohn aus erster Ehe, den alle Fred nannten, ging noch zur Mittelschule. Fred war das Enfant terrible der Familie. Schließlich gab es noch aus Nathans zweiter Ehe mit Hanna Nejmann den vierjährigen Benjamin. Mit seiner Namenswahl hatten die Eltern dem Allerhöchsten signalisieren wollen, dass es nun genug sei mit dem Kindersegen.

      Das Haus lag ganz in der Nähe der Synagoge. Mangels eines Rabbis leitete Goldstein als Chasan16 den Gottesdienst am Schabbat17. Schon Nathans Vater Noah, der vor der Jahrhundertwende aus Kongresspolen eingewandert war, hatte das Amt des Vorbeters ausgeübt. Damals versammelten sich die Lütticher Juden noch in Privathäusern. Die prächtige Synagoge in der Rue Léon-Frédericq war erst um die Jahrhundertwende auf einer Flussinsel erbaut worden. Als Joshua sie zum ersten Mal erblickte, war er überwältigt. Die Fassade, die orientalische und italienische Elemente in sich vereinte, erinnerte eher an ein verwunschenes Märchenschloss als an ein jüdisches Gebetshaus.

      Nathan Goldstein, der wie sein Vater den Beruf eines Schusters ausübte, zeichnete sich durch besondere Frömmigkeit aus. Ohne größere Studien absolviert zu haben, verstand er es, die Thora so auszulegen, dass sie einen konkreten Bezug zum Alltag der Menschen hatte. Aber in der Auslegung der Heiligen Schriften war er unerbittlich. Von den Gläubigen wurde er respektvoll »Rabbi« genannt, was ihm nicht zustand, aber ihm sichtlich schmeichelte. Goldstein war nicht irgendein namenloser Chasan. Er hatte sich als Autor verschiedener Hymnen, die nicht nur in Lüttich sondern auch in anderen Synagogen übernommen wurden, einen Namen gemacht.

      Die jüdische Gemeinde in Lüttich war klein und überschaubar. Die ersten Juden, die sich in der Maasmetropole niedergelassen hatten, stammten aus den Niederlanden. Nach dem Krieg war die Zahl der Gläubigen angewachsen, weil die Lütticher Hochschulen viele ausländische Studenten anzogen. Darunter waren etliche Juden aus Osteuropa und vom Balkan, die in ihren Heimatländern einem Numerus clausus unterlagen. Bei den Neuankömmlingen handelte es sich meist um säkulare und liberale Juden, deren religiöse Kultur minimal war. Insofern fristete die Lütticher Gemeinde weiterhin ein kümmerliches Dasein, bis immer mehr gläubige Juden aus Osteuropa einwanderten. Mit der Ankunft polnischer Juden stieg die Gemeinde sprunghaft auf 2.560 Mitglieder an.

      In den ersten Jahren besuchte an hohen Festtagen ein Rabbi aus den Niederlanden die Gemeinde. 1938 erhielt Lüttich mit Efraim Dombrowicz endlich einen eigenen Rabbiner. Zu dessen Aufgaben zählte die Durchführung der vorgeschriebenen Rituale bei Beschneidung, Trauung und Beerdigung. Seine Ernennung war eine Erleichterung für die Gläubigen, da sie nun nicht mehr für jede größere Amtshandlung die Synagogen in Brüssel oder Antwerpen aufsuchen mussten.

      Die Ankunft des Rabbis führte zu Reibereien mit dem Kantor, weil Nathan Goldstein sich in seinem Amt und seiner Autorität geschmälert sah. Anders als Goldstein hatte Dombrowicz in Polen eine Jewiche18 besucht СКАЧАТЬ