Schattenkinder. Marcel Bauer
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Название: Schattenkinder

Автор: Marcel Bauer

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783898019002

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      Für Mendel bedeutete das, dass er aus dem Schachclub Rochade, die ihre wöchentlichen Wettkämpfe in der städtischen Bibliothek austrug, verwiesen wurde. Ab 1935 waren höhere Ränge in der Armee und Karrieren im Staatsdienst den Juden verwehrt. An den Universitäten wurde ein Numerus clausus verhängt.

      Joshuas Vater betrieb in Gorna, wo es neben säkularen viele strenggläubige Juden gab, eine koschere7 Metzgerei, die »Kol Tiv – Das Beste für Sie« hieß. Rozenberg war Schächter8 und Metzger in einer Person. Das rituelle Schächten hatte er bei einem Onkel erlernt. Um ein von der Religionsbehörde anerkannter Schochet9 zu werden, bedurfte es einer speziellen Ausbildung. Die Vorschriften für die Ausübung des Berufes verlangten, dass man sich in den Geboten Mose genauso gut auskannte wie im Umgang mit den Schlachttieren. Zur Geschäftsgründung hatte die Mutter dem Vater zwei handgeschnitzte Schächtmesser geschenkt. Die Griffe waren mit Rinderköpfen sowie Gänsen und Truthähnen verziert.

      Bei der Geschäftsgründung hatte Rozenberg sich hoch verschuldet. Da er als Jude von der polnischen Genossenschaftsbank keinen Kredit bekommen hatte, hatte er sich das nötige Kapital bei einem jüdischen Wucherer geliehen. Anfangs verlief alles zu seiner Zufriedenheit, aber nach 1935 verschlechterte sich seine wirtschaftliche Situation, weil viele Kunden auswanderten.

      Der traditionelle Antisemitismus schlug hohe Wellen. Immer wieder geschah es, dass Juden auf offener Straße angepöbelt, einige sogar umgebracht wurden, ohne dass die Behörden eingriffen. Als es in Lodz zu Plünderungen jüdischer Geschäfte kam, dachte Rozenberg darüber nach, Polen zu verlassen.

      Die Idee nahm mit der Zeit immer konkretere Formen an. Von der allgemeinen Verunsicherung der Juden profitierten vor allem die Zionisten, die kräftig Werbung für eine Auswanderung nach Palästina machten, um Eretz Israel10 wieder aufzubauen. Rozenberg hielt das alles für ein Hirngespinst. Er verspürte keine Lust, »Ananas in der Wüste zu züchten«, wie er es formulierte. Er träumte von einer neuen Existenz in einem zivilisierten Land.

      Rasch geriet Belgien in seinen Fokus, weil er dorthin familiäre Beziehungen unterhielt. Vor dem Krieg hatte eine Kusine einen Kantor11 in Lüttich, Nathan Goldstein, geehelicht, einen Mann, den sie nie gesehen hatte, sondern nur von Fotografien her kannte. Das war durchaus üblich. Solche Ehen wurden von Heiratsvermittlern, sogenannten Schadchen, arrangiert. Goldstein war früh verwitwet, und da es sich für einen frommen Juden im besten Mannesalter nicht schickte, lange ledig zu sein, beschloss er, sich in seiner polnischen Verwandtschaft nach einer neuen Ehefrau und einer Ersatzmutter für seine vier unmündigen Kinder umzusehen. Er beauftragte Ariel Rozenberg per Brief mit der Brautschau.

      Nach einigem Suchen zeigte sich eine andere Kusine, ein älteres Fräulein um die dreißig, die in einer Spinnerei arbeitete, an einer Ehe mit dem Witwer interessiert. Nach einem kurzen Briefwechsel schlossen sie die Ketubba, den in Aramäisch verfassten Ehevertrag ab.

      Mit guten Wünschen versehen trat Hanna Nejmann 1934 die Reise in ein Land an, das der künftige Ehemann als Gelobtes Land beschrieben hatte. Die Ehe schien unter einem guten Stern zu stehen, denn sie war bald mit einem Kind gesegnet. Nach der Geburt eines Sohnes, der den Vornamen Benjamin erhielt, ließ Goldstein seine polnischen Verwandten wissen, er glaube, dass er damit dem göttlichen Gebot, Nachkommen in die Welt zu setzen, um den Fortbestand Israels zu sichern, Genüge getan habe.

      In Rozenbergs Auswanderungsplänen nahm der ferne Cousin einen zentralen Platz ein. Er hegte die Hoffnung, dass Goldstein sich wegen seiner Verdienste bei der Ehestiftung revanchieren und ihm bei einer Übersiedlung behilflich sein werde. Er wurde nicht enttäuscht. Nathan Goldstein versprach, ihn nach Kräften zu unterstützen.

      Damals wanderten viele Polen nach Belgien aus. Sie ließen sich von staatlichen und privaten Agenturen als Arbeitskräfte für das wallonische Kohle- und Stahlrevier anwerben. Die belgische Schwerindustrie erholte sich nur langsam von den Verlusten und Verwüstungen, die der Weltkrieg angerichtet hatte: Für die Arbeit in den Bergwerken und an den Hochöfen wurden vorzugsweise Italiener und Polen eingestellt, weil die im Ruf standen, genügsame, tüchtige und disziplinierte Arbeiter zu sein. Mitte der 30er Jahre lebten im wallonischen Stahlbecken 60.000 Polen. Den Behörden war es gleichgültig, welcher Konfession und Nationalität die Einwanderer waren, solange sie nur gesund und fleißig waren.

      Insofern war Rozenberg guten Mutes, als er im belgischen Konsulat von Krakau vorsprach und einen Antrag auf Einwanderung stellte. Als er im Gespräch freimütig erklärte, er beabsichtige, nicht in einem Bergwerk oder an einem Hochofen zu arbeiten, sondern ein Geschäft zu eröffnen, erfuhr er eine rüde Abfuhr.

      War der Ton bis dahin freundlich gewesen, wurde er mit einem Mal schroff und ablehnend. Man sei nicht gewillt, jüdische Hausierer und Hungerleider ins Land zu lassen. Alle diplo­matischen Vertretungen im Ausland seien angewiesen, ein Einreisevisum nur solchen Kandidaten zu erteilen, die schon einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen der Schwerindustrie vorweisen konnten.

      Als Rozenberg seinem Cousin von seinem Missgeschick berichtete, ermunterte der ihn, mit seinen Bemühungen fortzufahren und sich nicht entmutigen zu lassen. Es gebe andere, verschwiegene Wege, um nach Belgien zu gelangen. Er habe von gut organisierten Schleusernetzen gehört, die Juden bei der Einreise behilflich seien. Der Kantor versprach, sich bei polnischen Juden umzuhören, die es nach Belgien geschafft hatten, um zu erfahren, wie sie vorgegangen waren. Von ihnen erfuhr er, dass sie die Hilfe deutscher Glaubensbrüder erfahren hatten, die unmittelbar an der Grenze zu Belgien lebten.

      Der Kantor lieferte erstaunliche Details über die »Eifeljuden«. Eine Ortschaft namens Hellenthal diente angeblich als Drehscheibe im organisierten Menschenhandel. Dort, schrieb Goldstein seinem Vetter, gebe es einen Viehhändler namens Karl Haas, der schon viele Juden nach Belgien geschleust habe.

      Um sich ein genaues Bild über die Eifel und die Situation an der Grenze zu machen, suchte Rozenberg die Bibliothek der Großen Synagoge auf und stöberte in Handbüchern und Atlanten. Eines Tages fand er in einer älteren Ausgabe des »Jiddischen Wortes« einen Beitrag über die ominösen Eifeljuden. Demnach hatten sie sich nach der Bartholomäusnacht im Jahre 1346, als die jüdische Diaspora im Rheinland ausgelöscht wurde, in die Eifel und an die Mosel geflüchtet. Obwohl sie auch dort Verboten unterworfen waren, passten sie sich gut ihrer neuen Umgebung an. Viele wurden wohlhabende Bürger und besaßen Grundbesitz. Als die Eifel 1815 an Preußen fiel, wurden alle Beschränkungen, die ihnen bis dahin noch auferlegt waren, aufgehoben.

      Seitdem sie die Bürgerrechte besaßen, gingen sie normalen Berufen nach und genossen besonders als Makler und Händler hohes Ansehen bei ihren christlichen Nachbarn. Auffallend war, dass es unter ihnen viele Metzger und Viehhändler gab.

      In dem Heft gab es eine Landkarte mit dem Verzeichnis jüdischer Gemeinden in der Eifel: Münstereifel, Wittlich, Gemünd, Schleiden und Hellenthal waren die wichtigsten. Aber selbst in winzigen Ortschaften wie Kyll oder Blumenthal gab es Synagogen. Erfreut unterrichtete Rozenberg seinen Vetter, dass er nun wisse, welchen Weg er nach Belgien nehmen müsse.

      Mendel und Joshua blieben die Pläne, die die Eltern schmiedeten, nicht lange verborgen, denn ihr Vater verbrachte von nun an die Abende damit, Landkarten zu studieren und sich eifrig Notizen zu machen. In der freudigen Erregung, Schlupflöcher an der deutsch-belgischen Grenze gefunden zu haben, übersah Rozenberg, dass die rosigen Zustände, die in der Zeitschrift beschrieben wurden, älteren Datums waren. Das »Jiddische Wort« wusste noch nichts von den Repressionen, denen die Eifeljuden seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgesetzt waren. Inzwischen gab es die Nürnberger Gesetze, die darauf abzielten, allen Juden die existenzielle Grundlage zu entziehen und das Zusammenleben zwischen Juden und Ariern unmöglich zu machen.

      Um die Jahreswende 1935–1936 traf Rozenberg Vorbereitungen für die Ausreise. Da er ein rechtschaffener Mann war, der sich nicht wie ein Dieb in der Nacht davonstehlen СКАЧАТЬ