Название: Menschen im Krieg – Gone to Soldiers
Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Жанр: Книги о войне
isbn: 9783867548724
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Ihr Lieblingsbruder sah älter aus, dachte sie, seine Haut ledrig und zerfurcht, Netze neuer Falten um die dunkelblauen Augen, sein Haar noch blonder als das ihre. Er war guter, übermütiger Stimmung. Als sie verschiedene Freundinnen vorschlug, wollte er sie alle. Nach italienischem Essen, auf das Ready immer versessen war, in einem nahe gelegenen Lokal im Village, das Abra bevorzugte, weil dort auch vor dem Krieg nie Bilder von Mussolini gehangen hatten, trafen sie sich mit Djika, Karen Sue und Karen Sues neuer Mitbewohnerin Eveline, einer Kusine zweiten Grades mütterlicherseits aus Beaufort, North Carolina, die mit einem auf einem Begleitzerstörer stationierten Fähnrich zur See verheiratet war. Karen Sue betrachtete das Teilen ihrer Wohnung als ihr äußerstes Opfer für die Kriegsanstrengungen.
Nachdem sie sich durch ein paar Bars im Village getrunken hatten, fuhren sie hinauf zum Onyx Club und dann zum Famous Door, lauschten dem Swing und tanzten bis zwei Uhr morgens. »Sweet Georgia Brown«, sang Abra und tanzte Lindy mit ihrem Bruder. Als sie Karen Sue und Ready in dem rauchigen, schummrigen Raum auf dem überfüllten Tanzboden zu »That Old Black Magic« Wange an Wange tanzen sah, stellte sie sich plötzlich vor, wie es sich anfühlte, in jemanden verliebt zu sein und ihn in den Krieg zu verabschieden. Sich zu verlieben war etwas, das anderen Frauen passierte, niemals ihr selbst, und während sie ihre Fähigkeit, Männer zu genießen, bisher darauf zurückgeführt hatte, dass sie nicht von ihnen individuell besessen war, fragte sie sich nun, ob sie unfähig dazu war und stets vermeiden würde, was andere so leidenschaftlich zu suchen schienen.
Eveline tanzte mit einem Leutnant, den Ready an ihren Tisch gebeten hatte. Karen Sue und Ready legten einen geschmeidigen, koketten Lindy hin. »In the Mood« war laut, die Blechbläser waren aufgestanden, um ihre Hymne zu schmettern, doch Djikas leise, schneidende Stimme neben ihr drang deutlich an ihr Ohr.
»Wenn man dich mit diesem Bruder sieht, versteht man allmählich, worauf sich deine Abneigung gegen Männer deines Aussehens und deiner Herkunft gründet.«
»Aber Ready ist mein Lieblingsbruder. Wir haben uns immer nahe gestanden.«
»Eben.« Djika nickte, als hätte sie gesagt: matt in zwei Zügen. »Ihr seht euch sogar ungewöhnlich ähnlich. Als Jugendliche fandest du ihn natürlich attraktiv, deshalb suchst du dir aus Furcht vor dem lauernden Inzest Männer aus, die auf gar keinen Fall zu deiner Familie gehören könnten.«
»Ah, die zweifelhaften Freuden von Freud«, witzelte Abra. »Beweise, dass du mit vier in deinen Vater verliebt warst, und was bringt dir das? Immer noch das gleiche Bündel gegenwärtiger Probleme. Ich hoffe sehr, dass ich den guten Geschmack hatte, Ready zu begehren und nicht meinen schauderhaft langweiligen Bruder Roger oder Vater.«
Djika belehrte sie zum dreißigsten Mal, Freud zu missachten sei naiv, doch Abra war überzeugt, dass ihr Männergeschmack sich weit mehr aus Neugier speiste, aus Leidenschaft, aus Lebenslust, aus Erfahrungshunger denn aus dem Inzesttabu, das Djika postulierte. Zurzeit waren derlei Überlegungen ohnehin reine Theorie, da sie für mehr als eine gelegentliche Nacht mit einem alten Verehrer zu viel zu tun hatte und ihre Neugier auf Oscar Kahan nach wie vor ungesättigt blieb.
Bei diesem Tanz war ein Funke übergesprungen, denn als Ready zum Tisch zurückkam, murmelte er Abra zu, dass er den Rest der Nacht mit Karen Sue verbringen würde. Am nächsten Tag erzählte er ihr, Karen Sue habe darauf bestanden, dass er so tat, als schliefe er auf dem Sofa, bis Eveline ins Bett gegangen war. Er hielt das für die Südstaatenart, erklärte Karen Sue ansonsten aber zu einem Rasseweib. Dann setzte Abra ihn in den Zug nach Maine.
An jenem Mittwoch saßen Djika, Karen Sue, Eveline und Abra zusammen und teilten sich ein von Karen Sues Haushälterin zubereitetes Hühnerfrikassee, eine Bowle und eine Honigmelone. Sie hatten die Schuhe ausgezogen, die Fenster ganz hochgeschoben und zwei Ventilatoren angestellt. Stanley Beaupere war mit Frau und Kindern an den Strand von Jersey in Urlaub gefahren und ließ Djika in der Stadt schmoren.
Die Sonne ging über New Jersey unter, und die grauen Schiffe versammelten sich auf dem Fluss. »Jeden Abend kommen sie hier zusammen«, sagte Karen Sue träumerisch. »Am Morgen sind sie alle fort. Das ist doch bestimmt irgendein Sinnbild, Schiffe, die in der Nacht verschwinden.«
»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie verheerend es draußen auf Kap Hatteras aussieht«, sagte Eveline und schüttelte ihre Locken. »Der Strand ist übersät mit Wrackteilen und ölverschmierten Leichen.«
»Ich habe gehört, Blumenthal hat dir ab Herbst eine Assistentenstelle angeboten, und du hast sie abgelehnt, Abra.« Djika maß sie mit strengem Blick. »Was ist denn mit dir los? Wenn wir nicht Krieg hätten, müsstest du vierzig Jahre auf solch eine Chance warten.«
»Ich habe eine Ganztagsstellung bei einem Informationsdienst der Regierung.«
»Was machst du da?«
»Ach, Nachforschungen anstellen und Broschüren schreiben.«
»Was für Broschüren?«, fragte Djika.
Abra holte aus ihrer Schultertasche eine Broschüre mit dem Titel Kartoffeln fürs Vaterland. Sie reichte sie Djika und wusste nur zu gut, was ihre Freundin lesen würde:
Durch den Verzehr von Kartoffeln anstelle von Weizen können die Bürger der Vereinigten Staaten den Krieg gewinnen helfen. Wir haben nicht genug Weizen für unsere Verbündeten und uns selbst. Kartoffeln dagegen haben wir in Hülle und Fülle. Weizenmehl ist ein konzentriertes Nahrungsmittel und daher zur Verschiffung geeignet; Kartoffeln sind sperrig und demgemäß ungeeignet für die begrenzten Frachtkapazitäten …
Der Einleitung folgten seitenweise einfache Rezepte. Nach gekochten, gedämpften, geschnetzelten, gestampften, gebackenen, gefüllten Kartoffeln, Kartoffeln in Puffern oder Knödeln oder Aufläufen oder Salaten oder Kabeljauklößchen kamen die verzweifelteren Angebote: Kartoffelbrot mit gemahlenen Erdnüssen und eingeweckten Tomaten. Quetschkartoffeln als Ersatz für aufgeweichte Semmeln in falschem Hasen aus Kochfisch oder Hackfleisch. Fischkartoffelbraten. Fischhaschee mit kaltem Kartoffelpüree. Kartoffelnudeln. Kartoffeln im Schlafrock. Kartoffelwecken. Kartoffelplätzchen. Kartoffelkrapfen. Und dann das Finale: Kartoffeltorte.
Abras Erfahrung war, dass keine Neugier auf ihre neue Stellung überlebte, wenn sie der Kartoffelbroschüre ausgesetzt wurde. Schmunzelnd hatte Oscar einen Vermerk über ihre Pfiffigkeit weitergeleitet. Alle Frauen prüften nacheinander die Broschüre und sahen sie dann mit einer Mischung aus Mitleid und Bestürzung an. Das Thema wurde augenblicklich gewechselt.
Abgesehen von Djika, die immer noch in zerfleischter Treue im Schatten von Stanley Beauperes offenbar solide gebauter Ehe verweilte, entbehrten sie alle die Gesellschaft von Männern. Ihre männlichen Kollegen verschwanden nach und nach vom Campus. An der Columbia verwandelte sich das Gelände zwischen den Gebäuden und unter den Bäumen, das immer gesellschaftlicher Treffpunkt gewesen war, in Exerzierplätze für Marinekadetten, die unter militärischer Disziplin standen und viel zu jung für sie waren. Das normale Muster ihres gesellschaftlichen Lebens sah jetzt so aus, dass sie die meisten Abende, die nicht von Arbeit oder freiwilligen Diensten in Anspruch genommen waren, mit ihren Freundinnen verbrachten. Wenn dann ein früherer Freund oder Bekannter Urlaub bekam, ließen die Frauen alles fallen, blieben bis zum Morgengrauen aus und holten sich ihren Schlaf nach dem hektischen Wochenende.
»Abra, komm mal ein Minütchen her«, bat Karen Sue. »Ich habe etwas, da möchte ich mal sehen, ob es dir passt, Kind.«
Was Karen Sue ihr anpassen wollte, war das Versprechen, Ready nichts davon zu sagen, dass sie schon einmal verheiratet war. »Schließlich war es gar keine richtige СКАЧАТЬ