Название: Menschen im Krieg – Gone to Soldiers
Автор: Marge Piercy
Издательство: Автор
Жанр: Книги о войне
isbn: 9783867548724
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Ruthie erklärte, dass sie nicht als richtige Sekretärin arbeitete, sondern im Schreibsaal für die Stenotypistinnen. Als Jüdin hatte sie Glück, solch eine Stellung zu finden, in einem Büro, aber es war nicht das, was sie wirklich wollte, und sie hatte nicht vor, auf Dauer dabeizubleiben, vertraute sie Naomi an. Ihrer Mutter erzählte sie das nur ein einziges Mal, denn Rose ging an die Decke, wenn sie so was hörte. Rose bekam es mit der Angst, wenn sie meinte, eins ihrer Kinder wollte etwas, was es nicht haben konnte, aber Ruthie sagte, dass Rose sich mit zu wenig zufrieden gab, weil sie nicht begriff, wie die Welt sich veränderte. »Für Leute wie uns kann alles nur noch schlechter werden oder besser.«
In letzter Zeit dachte Naomi viel über Geld nach. Als kleines Mädchen war es für sie selbstverständlich, dass ihre Eltern arbeiteten. Sie waren nicht reich, sie waren Arbeiter wie alle im Viertel, aber sie aßen gutes Essen, das Maman nach der Arbeit kochte, und alle Mädchen halfen, und sonntags fuhren sie aufs Land oder sie gingen ins Kino oder in den Jardin des Plantes oder das Musée de l’Homme. Jedes Jahr machten sie im August richtige Ferien und verließen für vierzehn Tage Paris.
Als Papa in den Krieg musste, war ihre Familie ärmer geworden. Seitdem hier der Krieg angefangen hatte, ging es ihnen besser. Tante Rose und Sharon verdienten Geld, Ruthie hatte eine bessere Stellung, Arty stand am Fließband im Fisher-Karosseriewerk, und Onkel Morris machte viele Überstunden. Das Auto war endlich abbezahlt. Die Miete war zweimal erhöht worden, aber jetzt mit der Mietpreisbindung blieb sie stabil.
Sie sparten und steckten das Geld in Kriegsanleihen. Ruthie gab Naomi jede Woche einen Vierteldollar, damit sie dafür in der Schule Verteidigungsmarken kaufen konnte, aber Naomi tat es oft nicht. Sie wusste, wie das Papiergeld, das die Regierung ausgab, sich über Nacht in simples Papier verwandelte, und sie brachte es nicht fertig, ihre Vierteldollarmünzen auf diese Marken zu verschwenden, mit denen man nicht mal einen Brief frankieren konnte. Ihrem Gefühl nach begriffen die amerikanischen Verwandten einfach nicht, dass man an Münzgeld festhalten musste. Sie hatte ein Versteck unter einer morschen Diele in dem Zimmer, das sie mit Ruthie teilte. Dort versteckte sie ihre Vierteldollars, zumindest bis feststand, ob die Regierung stürzen würde. Regierungen taten das oft.
Wenn sie Leute sagen hörte, wie schlimm Hamsterer waren, lastete ihr Hamsterschatz aus Ruthies Vierteldollars auf ihrem Gewissen. Aber wenn all das Geld, das Tante Rose und Onkel Morris in Papieranleihen verwandelten, futsch war, dann konnte sie alle retten. Silber und Gold waren echt. Tante Batya hatte Polen mit ein wenig im Mantelsaum eingenähtem Gold verlassen, und davon hatten die Balabans nach Frankreich kommen und von vorn anfangen können.
Wenigstens hatte Ruthie jetzt mehr Zeit für sie, denn Ruthie hatte aufgehört, mit Männern auszugehen. Manchmal ging Naomi mit Trudi ins Kino und manchmal mit ihrer ganzen Familie oder mit Sharon (Arty hatte Spätschicht und konnte nicht mit) und manchmal mit Ruthie allein. Kleine Restaurants und Geschäfte machten zu, aber die Kinos waren rund um die Uhr geöffnet und immer voll. Sie sahen Alan Ladd in Die Narbenhand, Greer Garson in Mrs. Miniver und Bob Hope in Geliebte Spionin. Sie saßen Abenteuer in Panama, Saboteure und Der Dollarregen aus, alle paar Tage zwei oder drei Spielfilme hintereinander.
Jeden Abend hörten sie Radio und lasen Zeitung, sogar Naomi, deren Englisch sich so weit verbessert hatte, dass sie die Zeitungen ebenso gut las wie Onkel Morris. Ihr Lieblingsfach war Geografie, was Teil von Gesellschaftskunde war. Sie liebte es, die Namen aus dem Radio und den Zeitungen auf Karten im Atlas zu finden und die Bewegungen der Armeen in Ägypten, Neuguinea und der Sowjetunion nachzuvollziehen, obwohl es stets darauf hinauslief, dass die Achsenmächte vorrückten. Immer mehr musste auf den Karten schwarz schraffiert werden.
Tante Rose hielt sie dazu an, im Haus und auf dem Hof den Sommer über barfuß zu laufen, denn Schuhe waren rationiert. Ihre Fußsohlen wurden so hart, dass sie vor Brille und Sandy prahlte, sie könne über Glasscherben gehen, ohne sich zu schneiden, also zertrümmerten die eine Limoflasche. Naomi wollte eigentlich nicht, aber sie setzte den Fuß auf die Scherben und humpelte darüber, und sie hatte recht, der Fuß blutete nicht. Sie gewann ein Zehncentstück von Sandy und eins von Brille, aber dann musste sie ihnen für die Hälfte des Geldes Eistüten kaufen.
Alvin drehte einen Hydranten auf, und alle rannten durchs Wasser und spritzten im Rinnstein, bis die Polizei kam. Trudi sagte, sie könnten zu ihrem Haus kommen und unterm Gartenschlauch durchlaufen. Trudis Eltern wohnten im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses, und ihr Vater sprengte gern den Rasen. Naomi bekam von Ruthie einen neuen Badeanzug, leuchtend grün mit rückenfreiem Oberteil und einem süßen Röckchen. Sie versuchte sich einig zu werden, ob sie darin sexy aussah. Sandy redete andauernd davon, was sexy war und was nicht. Ihr anderes Wort war ›traumhaft‹. Sandy redete zu viel von Jungens, aber weil sie so nah wohnte, konnte Naomi sogar mit ihr spielen, wenn sie auf die Tagesstättenbälger aufpassen musste.
Sandy hatte honigblondes Haar, ungewöhnlich unter den Juden ihres Viertels. Im Gesicht wirkte sie knochig, die Nase habichtartig, der Kiefer ein wenig vorspringend, aber Sandy bildete sich etwas auf ihr Haar ein und tat, als wäre sie hübsch, und alle andern machten das mit. Sandy musste auf ihren rotznasigen kleinen Bruder Roy aufpassen, noch ein Band zwischen ihnen.
Sandy redete sich ein, der Hof zwischen den beiden Häusern sei was Besonderes. Ihr Paps hatte eine große Kabeltrommel aus Holz mitgebracht, die sie als Tisch benutzten, mit Holzkisten vom Kaufmann als Stühlen. Manchmal hatten Sandy oder sie Geld für eine Limo, aber meistens nicht. Da bei beiden Familien Zucker stets knapp war, behalfen sie sich mit kaltem Wasser und einer Scheibe Zitrone und spielten, das seien Cocktails, während Sandy ihr die Texte von »Chattanooga Choo Choo«, »Praise the Lord and Pass the Ammunition«, »Blues in the Night« und »Jingle Jangle Jingle« beibrachte. Teenager – so nannte Sandy das – Teenager zu sein schien eine Menge Arbeit. Man erwartete von ihr, dass sie über die Red Wings Bescheid wusste, die Hockey spielten, und über die Tigers, die Baseball spielten, und dass sie die Namen der Spieler kannte, sogar derjenigen Spieler, die schon eingezogen worden waren, und das, obwohl sie noch nie ein Baseball- oder ein Hockeyspiel gesehen hatte.
Am Abend saßen sie, nachdem es zum Spielen zu dunkel geworden war, auf den Verandastufen des Eckhauses, und Alvin ließ eine Zigarette rumgehen. Er mopste immer Chesterfields aus der Handtasche seiner Mutter. Naomi konnte schon daran ziehen, ohne zu husten. Ihr wurde schwindlig, aber das ließ sie sich nicht anmerken. Der Sommer war auch deshalb besser als der Winter, weil nach der Schule die Kinder sie eher in ihren Kreis aufnahmen, den Kreis der jüdischen Kinder ihres Alters aus den umliegenden vier Blocks. Es war, als zählte im Sommer alles nicht so stark, und alles wurde leichter genommen. Außerdem lernte sie auch. Wenn sie ihr eine Fluppe reichten oder schweinische Witze erzählten, dann reagierte sie nicht mehr mit Empörung, dann sagte sie nicht mehr, dass Tante Rose ihr so was verboten hatte. Sie machte einfach mit und hielt den Mund.
»Das wird unser Abschlussjahr«, sagte Sandy im gleichen Ton, in dem sie sonst sagte, Jungs seien traumhaft.
»Na und?«, sagte Naomi.
»Dann machen wir eine Abschlussfahrt nach Bob Lo. Es gibt ein Fest, und wir schreiben uns gegenseitig in unsere Autogrammbücher. Es gibt auch Tanz.«
Brille lachte. »Und die Mädchen müssen sich ihre eigenen Festkleider nähen, ha-ha, mein lieber Mann, wirst du blöd aussehen.«
»Bäh«, sagte Naomi. »Wenn ihr eure Anzüge nähen müsstet, was würdet ihr erst mal doof aussehen! Wisst ihr was, ich ziehe eine Einkaufstüte an. Die male ich rot an.«
»Frenchy, in einer Einkaufstüte siehst du bestimmt schnafte aus«, sagte Alvin.
»Die Laffen hier schmeißen neuerdings mit Sprüchen um sich«, sagte Sandy mit saurer Grimasse. »Die СКАЧАТЬ