Название: Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas
Автор: Wilhelm Kaltenstadler
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783957440730
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Auch in der Überlieferung der römischen Geschichte und Sprache vermutet Davidson Lücken.186 Latein (das sog. klassische Latein) war wohl genauso wie Hebräisch und (klassisches) Griechisch eine reine Kunstsprache. Hebräisch war „schon in frühesten Zeiten in Palästina keine lebende Sprache, sondern nur noch eine heilige Gelehrtensprache.“187 Es war auch in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Sprache einer sehr begrenzten geistlichen und wissenschaftlichen jüdischen Elite. Die große Masse der Aschkenasim sprach Jiddisch, der sephardischen Juden Ladino und Judezmo (romanische Sprachen). Die Aschkenasim bezeichneten ihre Sprache nicht als jiddisch, sondern als „taitsch“ (deutsch).
Im Gegensatz zum Jiddischen und Ladino waren das angeblich unter Alfons X., dem Weisen (1252-1282), – unter Mitwirkung der spanischen Juden – geschaffene Kastilisch188 und das in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Prager Kanzlei geschaffene Deutsch reine Kunstsprachen. Kastilisch soll sich nach Aussage des im 15. Jahrhundert lebenden Grammatikers Antonio de Nebrija wohl schon im Hohen Mittelalter „nach Aragon, Navarra und Italien“ ausgebreitet haben. Im Gegensatz zu Hebräisch, Latein und Griechisch war in großen Teilen des südlichen Iberiens bis ins späte Mittelalter das Arabische noch eine lebende Sprache.189
In Dantes Sprachkonzeption ist im Unterschied zum Arabischen und zu den historisch gewachsenen romanischen Volkssprachen, welche linguae naturales, also Natursprachen, sind, das klassische Latein eine lingua artificialis, also eine Kunstsprache, quam Romani grammaticam vocaverunt (welche die Römer als Grammatik bezeichneten). Auch für Dante ist das klassische Latein eine Sprache, in welcher die Grammatik eine wesentlich größere Rolle spielt und welche auch wesentlich anspruchsvoller zu erlernen ist als die Volkssprachen.190
Es ist somit undenkbar, dass ein einfacher Römer z. B. das Werk von Sallust oder Reden des Cicero hätte lesen und verstehen können.191 Mir ist ja immer seltsam vorgekommen, dass auch noch das heutige moderne Spanisch in der Grammatik dem Lateinischen viel näher verwandt ist als das moderne Italienisch. Vielleicht besteht des Rätsels Lösung darin, wie Ralph Davidson davon auszugehen, dass die romanischen Sprachen nicht Tochtersprachen des Lateinischen sind, sondern evtl. einer älteren „romanischen“ Sprachschicht Europas angehören, welche einst von Portugal bis Rumänien reichte. Neben anderen hat sich auch Horst Friedrich dieser erstmals von Davidson im Jahre 1995 geäußerten Auffassung angeschlossen.192
Verglichen mit dem Lateinischen weist die Entwicklung des Hebräischen vom Bibelhebräischen bis zum modernen Israelhebräisch eine einmalige Kontinuität auf. Interessant ist für mich, dass das jüdische Volk das einzige der westlich-abendländischen Kultur ist, das wirklich aus der Sicht von Sprache und Kultur noch in einer wirklich antiken Tradition steht. Die hebräische Sprache hat sich, von modernen Wortbildungen wie tazgig (Email), mechonit (Auto), monit (Taxi) etc. abgesehen, bis zum heutigen Tag in ihren Grundfesten erhalten. Es ist auch heute noch viel schwieriger, einen unpunktierten hebräischen als einen deutschen Text flüssig zu lesen.
Nicht so einfach liegen die Probleme bei allem, was mit „deutsch“ zu tun hat. Was die deutsche Geschichte und damit auch die Begriffe deutsch und Deutschland betrifft, darf man getrost von einer germanischen Ideologie sprechen. Höchst verdächtig ist, dass die meisten antiken Texte – auch solche, welche mit den Anfängen Deutschlands zu tun haben – ausgerechnet „erst von den frühen Humanisten durch systematische Suche vor allem in den Klosterbibliotheken193 des deutschen Kulturraumes und Sprachgebietes ans Licht befördert worden“194 sind. Dazu gehört auch die Germania von Tacitus, an deren Echtheit Brasi195 mit Berufung auf Herbert Hunger196 zu Recht zweifelt. Die Tacitushandschrift ist unter seltsamen Umständen erstmals 1425 im deutschen Kloster Hersfeld entdeckt und noch später publiziert worden.197
Über die hier angeschnittene Frage hinaus ist zu beachten, dass auch literarische Quellen, welche Ereignisse und Vorgänge der Antike betreffen, nicht nur aus dem Mittelalter stammen, sondern – zu einem sehr geringen Teil – auch antiker Provenienz sind. Es hat sich noch nicht einmal bei allen Historikern herumgesprochen, dass „viele Dutzende von längeren und kürzeren Fragmenten der antiken Literatur“, vor allem der altgriechischen, auf antiken Papyri überliefert worden sind und sich bis heute erhalten haben. Die Fragmente griechischer Papyri sind für die Wirkungsgeschichte des Hellenismus ohne Bedeutung und bringen auch sonst, wenn man von medizinischen Spezialfragen absieht, keinen allgemeinen historischen Erkenntnisgewinn.
Noch geringfügiger sind die Funde lateinischer literarischer Papyri. „Sie beschränken sich auf bescheidene Fragmente aus bereits bekannten Klassikern, die in der Schule gelesen wurden (Cicero, Livius, Sallust. Vergil).“198 Festzuhalten ist, dass auch die Merowinger, Araber, das Frankenreich und seine Nachfolgestaaten Papyri für ihre Urkunden verwandten. Neben dem Papyrus und dem Papier diente im Mittelalter das Pergament als Hauptbeschreibstoff für alle möglichen Quellen. Texte der antiken Literatur liegen uns bereits vereinzelt seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert vor. „Mehr oder weniger vollständige Pergamentkodizes begegnen uns zum erstenmal im 4. Jh. mit den beiden berühmten griechischen Bibelhandschriften, dem Sinaiticus und Vaticanus“. Vom 5. und 6. Jahrhundert an „besitzen wir bereits eine größere Zahl christlicher und profaner Pergamenthandschriften in Ost und West, d.h. in griechischer und lateinischer Sprache“199, so z.B. unter anderem auch Codices über Terenz, Vergil und Livius. An die Stelle der Rolle trat schon in der römischen Kaiserzeit zunehmend der Codex, der ja im Grunde der Vorläufer des modernen Buches war. Seit dem 2. Jahrhundert u. Z. wurden heidnische Schriftsteller in der Regel auf Pergamentrollen, christliche Autoren auf Papyruscodices festgehalten.
Bei den Handschriften sollten wir uns aber stets vor Augen halten, dass wir wirklich tragbare Ergebnisse über die Echtheit von Papyrus- und Pergamenthandschriften erst dann bekommen, wenn man deren Alter genauer, als bisher möglich, ermitteln kann. Die Radiokarbonmethode und Dendrochronologie sind für solche erdgeschichtlich relativ kurze Perioden, wie Oleinikov und andere dargelegt haben, nur in begrenztem Maße geeignet.200 Man hat sie darum auch nie dafür herangezogen.
Ein auffallend großer Anteil von Abschriften lateinischer Autoren, welche aus dem Mittelalter erhalten bzw. im Mittelalter entstanden sind, wurde, wie oben bereits angedeutet, durch von der römischen Kurie beauftragte Humanisten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in deutschen Klöstern entdeckt. Erstaunlicherweise erstreckte sich diese bibliophile Schatzsuche vor allem auf deutschsprachiges Gebiet, „weil auf deutschem Boden noch Schätze zu finden waren, die keine italienische Bibliothek besaß.“201 Italienische Gelehrte wühlten also im Auftrag der Kurie und anderer kirchlicher Kulturträger bevorzugt in deutschen bzw. deutschsprachigen Klosterbibliotheken herum, um antike Autoren zu entdecken, welche überwiegend ihre Werke im antiken Italien verfasst hatten:
„Im Gefolge des Pisaner Papstes Johannes XXIII. zogen zahlreiche Humanisten als Sekretäre oder Schreiber der Kurie nach dem Norden, unter ihnen Bruni und Poggio.“202
Letzterer, seit 1423 apostolischer Sekretär der römischen Kurie, führte allein vier intensive Bibliotheksreisen nach Frankreich und vor allem nach Deutschland durch und wurde „im Gefängnis der Barbaren“, z.T. durch widerrechtliche Aneignung, auch fündig.203 Im deutschen Sprachraum besuchte er vor allem die Klöster St. Gallen mit Nachbarklöstern, die Klöster in Fulda, Hersfeld und Köln. Rossi meint, der Humanist “erweiterte mit seinen wunderbaren Entdeckungen außerordentlich den Horizont der klassischen Studien“.204 Die gefundenen Codices wurden regelmäßig sofort kopiert, vielleicht auch deswegen, weil sich viele gefundene Handschriften (angeblich) in einem „erbärmlichen äußeren Zustand“205 befunden haben sollen. Nicht auszuschließen ist aber, dass diese Schnellkopien auch deswegen durchgeführt worden, weil man daran interessiert war, die mehr oder weniger gut erhaltenen Handschriften so schnell als möglich zu vernichten, wohl um eine Nachprüfbarkeit der Inhalte der gefundenen Handschriften СКАЧАТЬ