Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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Als er die Treppe zu den Räumen im ersten Stockwerk hinaufstieg, sah er Votivschilde, Rüstungen, geschnitzte Tabernakel, Holzfiguren, die auf den Stufen standen oder an die Wände gehängt waren. Verfolgt von den seltsamsten Formen, umgaukelt von wunderbaren Schöpfungen aus dem Grenzbereich von Tod und Leben, schritt er im Zauberbann eines Traums dahin. Zuletzt schien ihm seine eigene Existenz fraglich; er war wie diese Kuriositäten weder ganz tot noch ganz lebendig. Als er die neuen Lager betrat, fing es an zu dunkeln; doch Licht schien für die dort angehäuften gold- und silberfunkelnden Schätze überflüssig. Die kostspieligsten Liebhaberstücke von Verschwendern, die in Dachstuben geendet hatten, nachdem Millionen durch ihre Finger geglitten waren, befanden sich in diesem ungeheuren Bazar menschlicher Torheiten. Ein Schreibzeug, einst mit 100 000 Francs bezahlt und für 100 Sous aufgekauft, lag neben einem Geheimschloß, dessen Preis dazumal genügt hätte, einen König loszukaufen. Hier zeigte sich der menschliche Geist im ganzen Gepränge seiner Jämmerlichkeit, im vollen Glanz seiner gigantischen Beschränktheit. Ein Tisch aus Ebenholz, ein vollendetes Kunstwerk, nach Zeichnungen von Jean Goujon37 geschnitzt, das jahrelange Arbeit gekostet hatte, war vielleicht zum Brennholzpreis gekauft worden. Kostbare Kästchen, Geräte, die von Feenhänden gefertigt schienen, waren gleichgültig übereinandergehäuft.
»Sie haben hier Millionen!« rief der junge Mann, als er im letzten Raum einer ungeheuren Zimmerflucht angelangt war, die von Künstlern des vorigen Jahrhunderts vergoldet und mit reicher Schnitzarbeit versehen waren.
»Sagen Sie lieber Milliarden«, erwiderte der pausbäckige junge Mann. »Aber dies hier ist noch gar nichts; kommen Sie erst in das dritte Stockwerk, dann werden Sie sehen.«
Der Unbekannte folgte seinem Führer und gelangte in eine vierte Galerie, wo an seinen ermüdeten Augen in gedrängter Folge Gemälde von Poussin vorüberzogen, eine herrliche Statue von Michelangelo, einige entzückende Landschaften von Claude Lorrain,38 ein Gérard Dou,39 der wie eine Szene von Sterne anmutete, Rembrandts, Murillos,40 Velasquez’,41 düster und farbenreich wie ein Poem von Lord Byron,42 überdies antike Basreliefs, Achatkelche, seltene Onyxe! … Kurzum, es waren Arbeiten, die einem die Arbeit verleiden konnten, Kunstwerke in solcher Unzahl, daß sie einem Widerwillen gegen die Kunst einflößen und die Begeisterung töten mußten. Er stand vor einer Madonna von Raffael, aber er war Raffaels überdrüssig. Selbst für eine Figur von Correggio43 hatte er nicht einmal mehr den Blick, den sie erheischte. Eine antike Porphyrvase von unschätzbarem Wert, deren rundumlaufendes Relief die grotesk-unzüchtigste aller römischen Priapeen darstellte und einstmals irgendeine Corinna höchlichst ergötzte, entlockte ihm kaum ein Lächeln. Er erstickte unter den Trümmern fünfzig entschwundener Jahrhunderte, er war krank von all diesem menschlichen Gedankengut, erschlagen von Pracht und Kunstwerken, erdrückt von diesen ständig neu erwachsenden Formen, die, wie die Ausgeburten eines boshaften Geistes, unablässig aus dem Boden schossen und ihn in einen schier endlosen Kampf verstrickten.
Braut die Seele, die in ihrer Veränderlichkeit der modernen Chemie gleicht, welche die Schöpfung von einem Gas ableitet, durch die rasche Konzentration ihrer Genüsse, ihrer Kräfte oder ihrer Ideen nicht schreckliche Gifte? Sterben viele Menschen nicht an einer moralischen Säure, die sich plötzlich über ihr Inneres ergießt?
»Was ist denn in diesem Kasten?« fragte er, als er in ein großes Kabinett trat, eine letzte Schatzkammer, die Herrlichkeit, Meisterwerke aus Menschenhand, Kuriositäten und Reichtümer, in Fülle enthielt, und deutete auf einen großen viereckigen Mahagonischrein, der mit einer silbernen Kette an einem Nagel hing.
»Oh, Monsieur allein hat den Schlüssel dazu«, sagte der dicke Bursche geheimnisvoll. »Wenn Sie das Porträt zu sehen wünschen, werde ich es wagen, Monsieur davon in Kenntnis zu setzen.«
»Es wagen!« sagte der junge Mann. »Ist Ihr Herr ein Fürst?«
»Schon möglich«, antwortete der Bursche.
Sie sahen sich einen Augenblick an, der eine so erstaunt wie der andere. Der Lehrling deutete das Schweigen des Unbekannten als unausgesprochenen Wunsch und ließ ihn in dem Kabinett allein.
Hast du dich jemals bei der Lektüre der geologischen Werke von Cuvier44 in die Unendlichkeit von Raum und Zeit geschwungen? Hast du, getragen von seinem Genie, wie von der Hand eines Zauberers, über dem grenzenlosen Abgrund der Vergangenheit geschwebt? Wenn wir die Erde Scholle für Scholle und СКАЧАТЬ