Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Literaten, die in meinen Augen gewichtige Persönlichkeiten waren, mußten jahrelang intrigieren, um zu Bergotte Beziehungen anzuknüpfen, die dann immer noch im literarischen Dunkel blieben und nicht über sein Arbeitszimmer hinauskamen, während ich bereits unter den Freunden des großen Schriftstellers Platz fand; und dies geschah ohne weiteres in aller Ruhe, wie etwa jemand, statt mit vielen an der Kasse anzustehen, um einen schlechten Platz zu bekommen, einen heimlichen, den andern verschlossenen Gang passiert und die besten Plätze erhält. Swann öffnete mir solch einen Gang, denn wie ein König die Freunde seiner Kinder gern in die königliche Loge, auf die königliche Jacht einlädt, so empfingen Gilbertes Eltern die Freunde ihrer Tochter inmitten aller Kostbarkeiten, die sie besaßen, und der noch kostbareren Freundschaften, die davon umrahmt wurden. Damals aber dachte ich, und vielleicht nicht mit Unrecht, daß Swanns Liebenswürdigkeit sich indirekt an meine Eltern richte. Ich glaubte mich zu erinnern, daß er früher einmal in Combray angesichts meiner Bewunderung für Bergotte meinen Eltern angeboten hatte, mich mit zum Essen zu Bergotte zu nehmen, und daß meine Eltern das mit der Begründung abgeschlagen hatten, ich sei zu jung und zu nervös, um »auszugehen«. Für gewisse Leute, und zwar gerade die, welche mir am merkwürdigsten schienen, stellten meine Eltern zweifellos etwas ganz anderes dar als für mich; und wie damals, als die Dame in Rosa sich im Lob über meinen Vater erging, dessen er sich so wenig würdig gezeigt hatte, wäre mir lieb gewesen, meine Eltern sähen ein, was für ein unschätzbares Geschenk ich empfangen habe, und bezeugten dem freigebigen und höflichen Swann ihre Dankbarkeit. Er hatte mir oder ihnen dies Geschenk dargeboten, ohne seinen Wert zu beachten, ganz wie in Luinis Fresco der eine der heiligen drei Könige, der reizende mit der gekrümmten Nase und dem blonden Haar, mit dem Swann früher große Ähnlichkeit gehabt haben sollte.
Die besondere Gunst der Swann, die ich zu Hause, noch ehe ich den Mantel ausgezogen hatte, meinen Eltern in der Hoffnung verkündete, ihr Herz damit so zu bewegen, wie meines bewegt war, und sie zu einer ungewöhnlichen, entschiedenen »Aufmerksamkeit« gegen die Swann zu bestimmen – diese Gunst schien von ihnen leider nicht sehr geschätzt zu werden. »Swann hat dich Bergotte vorgestellt? Ausgezeichnete Bekanntschaft, reizende Beziehung!« rief ironisch mein Vater. »Das hat gerade noch gefehlt!« Und als ich hinzufügte, daß Bergotte Herrn von Norpois nicht ausstehen könne, fuhr der Vater fort: »Natürlich. Das beweist zur Genüge, was für ein falscher, böswilliger Charakter er ist. Mein armes Kind, du hast so schon nicht viel gesunden Menschenverstand, es tut mir herzlich leid, dich in einen Kreis geraten zu sehen, der dich vollends außer Rand und Band bringen wird.«
Schon mein einfacher Verkehr bei den Swann hatte meine Eltern durchaus nicht entzückt. Die Bekanntschaft mit Bergotte schien ihnen die verhängnisvolle, jedoch natürliche Folge eines ersten Fehlers, einer Schwäche, die mein Großvater einen »Mangel an Umsicht« genannt haben würde. Um ihre schon getrübte Laune völlig zu verderben, brauchte ich, wie ich fühlte, nur noch zu sagen, dieser verderbte Mensch, der Herrn von Norpois nicht schätzte, habe mich äußerst intelligent gefunden. Sah mein Vater jemanden, zum Beispiel einen meiner Kameraden auf schlechtem Wege – wie jetzt mich – und der hatte dann noch den Beifall eines Menschen, den mein Vater nicht achtete, so fand er in diesem Urteil eine Bekräftigung seiner ungünstigen Diagnose. Die Sache wurde dadurch für ihn nur schlimmer. In Gedanken hörte ich ihn schon rufen: »Das paßt genau eins zum andern«, ein Wort, das mich immer durch seine Unexaktheit erschreckte, sowie durch eine Fülle von Reformen, die meinem sanften Dasein von daher drohten. Nun konnte aber doch schon nichts mehr den ungünstigen Eindruck, den meine Eltern hatten, verwischen; ob ich von Bergottes Lob erzählte oder nicht, es war ohne Belang und konnte die Lage kaum noch verschlimmern. Die Eltern kamen mir so ungerecht vor, so tief im Irrtum, ich hatte keine Hoffnung, ja nicht einmal den Wunsch, sie auf einen gerechteren Standpunkt zu bringen. Und doch fühlte ich, während mir die Worte schon entfahren wollten, wie sehr die Eltern der Gedanke erschrecken würde, daß ich jemandem gefallen habe, der die intelligenten Menschen dumm fand, den die ehrenwerten Leute verabscheuten und dessen Lob, an dem mir soviel lag, in allem Schlechten mich bestärken mußte; so gab ich denn als Schluß meines Berichtes mit leiser Stimme und etwas verschämter Miene die Worte zum besten: »Er hat zu den Swann gesagt, daß er mich außerordentlich intelligent gefunden habe.« Wie ein vergifteter Hund sich im Felde unbewußt gerade auf das Kraut wirft, welches das Gegengift dessen enthält, das er verschluckt hat, so hatte ich ahnungslos das einzige Wort auf der Welt gesagt, das bei meinen Eltern das Vorurteil gegen Bergotte überwinden konnte; die schönsten Betrachtungen und alle Lobreden über ihn wären dagegen nicht aufgekommen.
Augenblicklich änderte die Situation das Gesicht. »Ah? ... Er hat gesagt, daß er dich intelligent finde?« sagte meine Mutter. »Das freut mich, denn es ist doch ein Mann von Talent!«
»Wie? Das hat er gesagt?« meinte der Vater. »Ich leugne durchaus nicht seine literarischen Meriten, die allgemein anerkannt werden, es ist nur ärgerlich, daß sein Leben so wenig einwandfrei ist, wie der alte Norpois andeutete.« Der Vater bemerkte nicht, daß gegen die Übermacht der Zauberworte, die ich ausgesprochen, Bergottes Sittenverderbnis nicht länger ankämpfen konnte als die Falschheit seines Urteils. »Ach, lieber Freund,« unterbrach die Mutter. »Nichts beweist, daß es wahr ist. Man spricht so viel. Herr von Norpois ist sehr nett, aber nicht gerade immer sehr wohlwollend, besonders gegen Leute, die nicht von seiner Partei sind.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte mein Vater.
»Nun und dann wird dem Bergotte viel vergeben werden, weil er meinen kleinen Burschen nett gefunden hat«, schloß die Mutter, streichelte mit ihren Fingern mein Haar und sah mich mit einem langen verträumten Blick an.
Meine Mutter hatte übrigens diesen Wahrspruch Bergottes nicht abgewartet, um mir zu sagen, ich könne Gilberte einladen, wenn ich Freunde zu Besuch habe. Das wagte ich aber nicht, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens gab es bei Gilberte nur Tee. Zu Hause hielt aber die Mutter darauf, daß neben dem Tee auch Schokolade gereicht wurde. Ich fürchtete, Gilberte könne das gewöhnlich finden und uns daraufhin sehr verachten. Der zweite Grund war eine Schwierigkeit der Etikette, die ich nicht beheben konnte. Wenn ich zu Frau Swann kam, fragte sie: »Wie geht es Ihrer Frau Mutter?«
Ich hatte meiner Mutter einige dahingehende Eröffnungen gemacht, um zu erfahren, ob sie sich auch so verhalten werde, wenn Gilberte käme; dieser Punkt schien mir bedeutsamer als die Monseigneur-Frage am Hofe Ludwigs XIV. Aber davon wollte Mama nichts wissen.
»Ich kenne doch Frau Swann gar nicht.«
»Sie kennt dich doch auch nicht.«
»Mag sein, aber wir sind nicht gezwungen, in allem genau dasselbe zu tun. Ich werde Gilberte andere Freundlichkeiten erweisen, die Frau Swann für dich nicht haben wird.«
Aber ich ließ mich nicht überzeugen und zog es vor, Gilberte nicht einzuladen.
Als ich meine Eltern verlassen hatte, mich umziehen wollte und meine Tasche leerte, fand ich mit einmal den Briefumschlag, den mir Swanns Butler überreicht hatte, bevor er mich in den Salon führte. Ich öffnete ihn: innen war eine Karte, auf der man mir die Dame bezeichnete, der ich beim Zutischegehen den Arm reichen sollte.
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