Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Kummer, den ein geliebtes Wesen uns verursacht, kann bitter sein, auch wenn er sich in eine Reihe von Sorgen, Beschäftigungen und Freuden einfügt, die dieses Wesen nicht zum Gegenstande haben und von denen unsere Aufmerksamkeit sich nur von Zeit zu Zeit ablenken läßt, um zu ihm zurückzukehren. Entsteht aber ein solcher Kummer – wie jetzt meiner – in einem Zeitpunkt, in dem das Glück, dies Wesen zu sehen, uns ganz erfüllt, dann entfesselt die jähe Niedergeschlagenheit in unserer bisher durchsonnten, aufrechten, ruhigen Seele einen furchtbaren Sturm, gegen den ausdauernd anzukämpfen wir uns kaum fähig fühlen. Der, welcher über mein Herz fuhr, war so heftig, daß ich ganz zerschmettert und wund nach Hause kam und fühlte, ich würde erst wieder atmen können, wenn ich gleich umkehrte und unter irgend einem Vorwand zu Gilberte zurückginge. Aber dann hätte sie sich gesagt: »Da ist er schon wieder! Ich kann mir offenbar alles erlauben, er wird jedesmal nur um so gefügiger wiederkommen, je unglücklicher er mich verlassen hat.« Und doch zogen mich meine Gedanken unwiderstehlich zu ihr hin, und dies Hin- und Herschwanken, dies tolle Abweichen der Magnetnadel nahm kein Ende, als ich heimgekommen war, und übertrug sich in widerspruchsvolle Entwürfe von Briefen, die ich an Gilberte schreiben wollte.
Ich sollte eine der schwierigen Konstellationen durchmachen, denen man sich im allgemeinen zu wiederholten Malen im Leben gegenüber befindet, aber nicht jedesmal, das heißt, nicht in jedem Lebensalter auf die gleiche Art standhält, ob wohl Charakter und Natur sich nicht geändert haben – unsere Natur, die doch selbst unsere Liebesgefühle schafft, faßt auch die Frauen, die wir lieben, ja sogar deren Fehler. – In solchen Zeitpunkten spaltet sich, unser Leben und verteilt sich auf beide Schalen einer Wage. In der einen liegt unser Begehren, nicht zu mißfallen, nicht zu demütig zu erscheinen vor dem Wesen, das wir lieben und doch nicht begreifen können, das wir aber lieber etwas in Ruhe lassen wollen, damit es sich nicht für unentbehrlich halte und aus diesem Gefühl heraus von uns abwende. In der andern Schale liegt ein Schmerz, der nur gelindert werden kann, wenn wir es aufgeben, der Frau zu gefallen, es aufgeben, sie glauben zu machen, daß wir sie entbehren können, und wieder zu ihr gehen. Nimmt man von der Schale, auf der der Stolz liegt, eine kleine Quantität Willen weg, den man aus Schwäche mit dem Älterwerden sich hat abnutzen lassen, und tut man auf die Schale mit dem Kummer einen erworbenen physischen Schmerz, dem man erlaubt hat, sich zu verschlimmern, so wird es nicht das heldische Resultat geben, zu dem man mit zwanzig Jahren gelangt wäre; die Kummerschale ist zu schwer geworden, und ohne hinreichendes Gegengewicht sinkt sie mit uns, wenn wir fünfzig sind. Um so mehr als die Situationen, die sich wiederholen, doch anders werden und man leicht in der Mitte oder am Ende des Lebens sich selbst gegenüber die verhängnisvolle Nachgiebigkeit hat, Liebe mit ein wenig Gewohnheit zu verquicken, die die Jugend, an andere Pflichten gebunden und von sich aus weniger frei, nicht kennt.
Ich hatte Gilberte einen Brief geschrieben, in dem ich meinen Zorn austoben ließ, aber nicht ohne immerhin mit einigen wie zufällig angebrachten Worten die Boje auszuwerfen, an die meine Freundin eine Aussöhnung festmachen konnte; einen Augenblick später hatte der Wind sich gewendet, ich schrieb ihr, verlockt von der Süße gewisser verzweifelter Wendungen, zärtliche Sätze mit »nimmermehr«, so rührend für die, welche sie schreiben, so langweilig für die, die sie liest, ob sie sie nun verlogen findet und »nimmermehr« übersetzt »heut abend noch, wenn Sie mich haben wollen« oder sie für wahr und für die Anzeige einer dieser definitiven Trennungen hält, die uns so vollkommen gleichgültig sind, wenn es sich um Wesen handelt, für die wir nichts empfinden. Solange wir lieben, sind wir aber unfähig, als würdige Vorläufer des Wesens zu handeln, das wir hernach sein werden und das nicht mehr lieben wird; wie sollten wir uns da den Geisteszustand einer Frau vorstellen können, der wir, selbst wenn wir wissen, daß wir ihr gleichgültig sind, in unsern Träumereien beständig Worte der Liebe zu uns in den Mund legen, um uns in einen schönen Wahn zu wiegen oder in schwerem Kummer zu trösten. Vor den Gedanken und Handlungen einer geliebten Frau stehen wir ebenso ratlos, wie es die ersten Physiker vor den Naturerscheinungen gewesen sein mögen (bevor die Wissenschaft begründet wurde und etwas Licht ins Unbekannte brachte.) Oder schlimmer noch: wie ein Wesen, für dessen Geist das Prinzip der Kausalität kaum existierte, ein Wesen, das außerstande wäre, eine Verbindung herzustellen zwischen zwei Phänomenen, und vor dem das Schauspiel der Welt ungewiß bliebe wie ein Traum. Gewiß bemühte ich mich, aus dieser Zusammenhanglosigkeit herauszukommen und Gründe zu finden. Ich versuchte sogar »objektiv« zu sein und mir zu diesem Zweck genau Rechenschaft zu geben über das Mißverhältnis zwischen der Wichtigkeit, die Gilberte für mich hatte, und der, die ich für sie, ja auch der, die sie für die anderen Wesen außer mir hatte, ein Mißverhältnis, das, von mir vernachlässigt, mich eine einfache Liebenswürdigkeit meiner Freundin für ein leidenschaftliches Geständnis, einen grotesken und entwürdigenden СКАЧАТЬ