Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen

Автор: Marcel Proust

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208821

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СКАЧАТЬ gegen mich, die unfreiwillige Ursache, daß sie ihrem Vergnügen nicht nachgehen konnte, oder lag es daran, daß ich ihren Verdruß erriet und vorbeugend kälter war als gewöhnlich, – an diesem ganzen Nachmittage war Gilbertes Gesicht aller Freude beraubt, leer wie geplündert, schien dem Pas-de-Quatre, dessen meine Gegenwart sie beraubte, eine melancholische Klage zu weihen und zu betonen, daß kein Geschöpf, von mir angefangen, die letzten feinsten Ursachen begreifen könne, die in ihr eine innige Neigung zum Boston erweckt hätten. Sie beschränkte sich darauf, ab und zu ein paar Worte mit mir über das Wetter, die neuen Regengüsse, das Vorgehen der Uhr zu wechseln, dazwischen gab es Pausen des Verstummens und der Einsilbigkeit, und ich selber versteifte in verzweifelter Wut mich darauf, die Momente, die wir der Freundschaft und dem Glück hätten widmen können, zu zerstören. Allen unsern Wendungen teilte sich äußerste Härte mit durch das krankhafte Übermaß ihrer paradoxen Belanglosigkeit, und das tröstete mich noch, denn so konnte sich Gilberte wenigstens nicht von der Banalität meiner Betrachtungen und der Kühle meines Tonfalls irreführen lassen. Umsonst sagte ich: »Mir scheint, neulich ging die Uhr eher nach«, sie übersetzte offenbar: »Wie böse Sie sind!« Mochte ich auch noch so eigensinnig den ganzen verregneten Tag lang diese Worte ohne Aufklärung widerholen, ich wußte: meine Kälte war nicht von so endgültiger Starrheit, wie ich vorgab; und Gilberte mochte wohl merken: ließ ich, nachdem ich schon dreimal gesagt, es noch ein viertes Mal darauf ankommen, ihr zu wiederholen, daß die Tage kürzer würden, ich würde kaum die Tränen zurückhalten können. Wenn sie in solcher Laune war, wenn kein Lächeln ihre Augen erfüllte und ihr Gesicht entschleierte, dann prägte sich eine unsagbar trostlose Monotonie den traurigen Augen und mürrischen Zügen auf. Ihr Gesicht wurde dann beinah fahl und glich den öden Strandpartien, von denen das Meer sich weit zurückzieht und uns durch immer gleichen Widerschein, den unbeweglicher, beschränkter Horizont abgrenzt, ermüdet. Zuletzt, als Gilberte noch immer nicht die glückliche Änderung eintreten ließ, auf die ich seit Stunden wartete, sagte ich ihr, daß sie nicht nett sei. »Sie sind nicht nett«, antwortete sie. »Doch!« Ich fragte mich, was ich denn getan habe, und als ich nichts fand, fragte ich sie danach. »Sie finden sich natürlich nett!« sagte sie und lachte lange. Da fühlte ich, wie schmerzlich es für mich war, nicht auf die andere unerreichliche Ebene ihres Denkens zu gelangen, die ihr Lachen beschrieb. Dies Lachen schien zu bedeuten: »Nein, nein, ich lasse mir nichts vormachen von allem, was Sie da sagen, ich weiß, Sie sind in mich vernarrt, aber davon wird mir weder warm noch kalt, denn ich kümmere mich nicht um Sie.« Aber ich sagte mir, am Ende ist das Lachen keine so deutliche Sprache, daß ich mich darauf verlassen kann, es in diesem Falle richtig verstanden zu haben. Und Gilbertes Worte waren doch ganz freundlich. »Worin bin ich denn nicht nett?« fragte ich. »Sagen Sie es mir, ich werde alles tun, was Sie wollen.« »Nein, das hilft nichts, ich kann Ihnen nicht erklären ...« Einen Augenblick fürchtete ich, sie glaube, ich liebe sie nicht mehr, das war ein neuer Schmerz für mich und nicht weniger heftig, aber er verlangte eine andere Dialektik. »Wenn Sie wüßten, was für Kummer Sie mir machen, würden Sie es mir sagen.« Aber dieser Kummer, der ihr hätte wohltun müssen, wenn sie an meiner Liebe zweifelte, verdroß sie nur. Da begriff ich meinen Irrtum, beschloß, keinen Wert auf ihre Worte zu legen und ihr nicht Glauben zu schenken, wenn sie sagte: »Ich hatte Sie wirklich lieb, das werden Sie eines Tages sehen« (das ist der Tag, an dem, wie die Schuldigen versichern, ihre Unschuld offenbar werden wird; aus geheimnisvollen Gründen fällt er nie mit dem zusammen, an welchem man sie verhört), und so hatte ich den Mut, plötzlich den Entschluß zu fassen, sie nicht mehr zu besuchen, und zwar ohne es ihr anzukündigen; sie hätte es mir doch nicht geglaubt.

      Kummer, den ein geliebtes Wesen uns verursacht, kann bitter sein, auch wenn er sich in eine Reihe von Sorgen, Beschäftigungen und Freuden einfügt, die dieses Wesen nicht zum Gegenstande haben und von denen unsere Aufmerksamkeit sich nur von Zeit zu Zeit ablenken läßt, um zu ihm zurückzukehren. Entsteht aber ein solcher Kummer – wie jetzt meiner – in einem Zeitpunkt, in dem das Glück, dies Wesen zu sehen, uns ganz erfüllt, dann entfesselt die jähe Niedergeschlagenheit in unserer bisher durchsonnten, aufrechten, ruhigen Seele einen furchtbaren Sturm, gegen den ausdauernd anzukämpfen wir uns kaum fähig fühlen. Der, welcher über mein Herz fuhr, war so heftig, daß ich ganz zerschmettert und wund nach Hause kam und fühlte, ich würde erst wieder atmen können, wenn ich gleich umkehrte und unter irgend einem Vorwand zu Gilberte zurückginge. Aber dann hätte sie sich gesagt: »Da ist er schon wieder! Ich kann mir offenbar alles erlauben, er wird jedesmal nur um so gefügiger wiederkommen, je unglücklicher er mich verlassen hat.« Und doch zogen mich meine Gedanken unwiderstehlich zu ihr hin, und dies Hin- und Herschwanken, dies tolle Abweichen der Magnetnadel nahm kein Ende, als ich heimgekommen war, und übertrug sich in widerspruchsvolle Entwürfe von Briefen, die ich an Gilberte schreiben wollte.

      Ich sollte eine der schwierigen Konstellationen durchmachen, denen man sich im allgemeinen zu wiederholten Malen im Leben gegenüber befindet, aber nicht jedesmal, das heißt, nicht in jedem Lebensalter auf die gleiche Art standhält, ob wohl Charakter und Natur sich nicht geändert haben – unsere Natur, die doch selbst unsere Liebesgefühle schafft, faßt auch die Frauen, die wir lieben, ja sogar deren Fehler. – In solchen Zeitpunkten spaltet sich, unser Leben und verteilt sich auf beide Schalen einer Wage. In der einen liegt unser Begehren, nicht zu mißfallen, nicht zu demütig zu erscheinen vor dem Wesen, das wir lieben und doch nicht begreifen können, das wir aber lieber etwas in Ruhe lassen wollen, damit es sich nicht für unentbehrlich halte und aus diesem Gefühl heraus von uns abwende. In der andern Schale liegt ein Schmerz, der nur gelindert werden kann, wenn wir es aufgeben, der Frau zu gefallen, es aufgeben, sie glauben zu machen, daß wir sie entbehren können, und wieder zu ihr gehen. Nimmt man von der Schale, auf der der Stolz liegt, eine kleine Quantität Willen weg, den man aus Schwäche mit dem Älterwerden sich hat abnutzen lassen, und tut man auf die Schale mit dem Kummer einen erworbenen physischen Schmerz, dem man erlaubt hat, sich zu verschlimmern, so wird es nicht das heldische Resultat geben, zu dem man mit zwanzig Jahren gelangt wäre; die Kummerschale ist zu schwer geworden, und ohne hinreichendes Gegengewicht sinkt sie mit uns, wenn wir fünfzig sind. Um so mehr als die Situationen, die sich wiederholen, doch anders werden und man leicht in der Mitte oder am Ende des Lebens sich selbst gegenüber die verhängnisvolle Nachgiebigkeit hat, Liebe mit ein wenig Gewohnheit zu verquicken, die die Jugend, an andere Pflichten gebunden und von sich aus weniger frei, nicht kennt.

       Ich hatte Gilberte einen Brief geschrieben, in dem ich meinen Zorn austoben ließ, aber nicht ohne immerhin mit einigen wie zufällig angebrachten Worten die Boje auszuwerfen, an die meine Freundin eine Aussöhnung festmachen konnte; einen Augenblick später hatte der Wind sich gewendet, ich schrieb ihr, verlockt von der Süße gewisser verzweifelter Wendungen, zärtliche Sätze mit »nimmermehr«, so rührend für die, welche sie schreiben, so langweilig für die, die sie liest, ob sie sie nun verlogen findet und »nimmermehr« übersetzt »heut abend noch, wenn Sie mich haben wollen« oder sie für wahr und für die Anzeige einer dieser definitiven Trennungen hält, die uns so vollkommen gleichgültig sind, wenn es sich um Wesen handelt, für die wir nichts empfinden. Solange wir lieben, sind wir aber unfähig, als würdige Vorläufer des Wesens zu handeln, das wir hernach sein werden und das nicht mehr lieben wird; wie sollten wir uns da den Geisteszustand einer Frau vorstellen können, der wir, selbst wenn wir wissen, daß wir ihr gleichgültig sind, in unsern Träumereien beständig Worte der Liebe zu uns in den Mund legen, um uns in einen schönen Wahn zu wiegen oder in schwerem Kummer zu trösten. Vor den Gedanken und Handlungen einer geliebten Frau stehen wir ebenso ratlos, wie es die ersten Physiker vor den Naturerscheinungen gewesen sein mögen (bevor die Wissenschaft begründet wurde und etwas Licht ins Unbekannte brachte.) Oder schlimmer noch: wie ein Wesen, für dessen Geist das Prinzip der Kausalität kaum existierte, ein Wesen, das außerstande wäre, eine Verbindung herzustellen zwischen zwei Phänomenen, und vor dem das Schauspiel der Welt ungewiß bliebe wie ein Traum. Gewiß bemühte ich mich, aus dieser Zusammenhanglosigkeit herauszukommen und Gründe zu finden. Ich versuchte sogar »objektiv« zu sein und mir zu diesem Zweck genau Rechenschaft zu geben über das Mißverhältnis zwischen der Wichtigkeit, die Gilberte für mich hatte, und der, die ich für sie, ja auch der, die sie für die anderen Wesen außer mir hatte, ein Mißverhältnis, das, von mir vernachlässigt, mich eine einfache Liebenswürdigkeit meiner Freundin für ein leidenschaftliches Geständnis, einen grotesken und entwürdigenden СКАЧАТЬ