Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Eine ausgesprochene Strenge des Geschmackes, der Wille, nie etwas zu schreiben, wovon er nicht sagen könne: »Es ist süß«, hatten ihn viele Jahre hindurch für einen sterilen, affektierten Künstler, der an Nichtigkeiten feilt, gelten lassen, aber gerade sie waren das Geheimnis seiner Stärke. Gewohnheit bildet ebenso den Stil des Schriftstellers wie den Charakter des Menschen, und der Autor, der sich mehrere Male begnügt hat, im Ausdruck seines Gedankens eine gewisse Anmut zu erreichen, setzt damit für immer die Grenzen seines Talentes. So gibt man oft dem Vergnügen, der Trägheit, der Furcht vor dem Leiden nach und zeichnet in einen Charakter, bei dem eine Retusche schließlich nicht mehr möglich ist, die Form der eignen Laster und die Enge der eignen Tugend ein.
So habe ich wohl in der Folge viele Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Schriftsteller Bergotte wahrgenommen. Wenn ich aber trotzdem im ersten Augenblick bei Frau Swann nicht geglaubt habe, daß es wirklich Bergotte sei, der Verfasser so vieler göttlicher Bücher, der sich da vor mir befand, hatte ich vielleicht nicht absolut unrecht, denn er selbst (im wahren Sinne des Wortes) »glaubte« es ebensowenig, er glaubte es nicht, denn er bemühte sich eifrig um die Leute der Gesellschaft (ohne im übrigen ein Snob zu sein) und um die Schriftsteller und Journalisten, die tief unter ihm standen. Wohl hatte er jetzt durch den Schiedsspruch der andern erfahren, daß er Genie habe, woneben die gesellschaftliche Stellung und die offiziellen Posten nichts sind. Er hatte erfahren, daß er Genie habe, aber er glaubte es nicht, denn er fuhr fort, mittelmäßigen Schriftstellern gegenüber Ehrerbietung zu heucheln, um demnächst in die Akademie zu kommen, obwohl doch die Akademie oder das Faubourg Saint-Germain mit dem Teil des ewigen Geistes, der Bergottes Bücher geschaffen hat, ebensowenig zu tun haben wie mit dem Prinzip der Kausalität oder der Idee Gottes. Das wußte er auch, wie ein Kleptomane, ohne daß es ihm hilft, weiß, daß das Stehlen vom Übel ist. Der Mann mit dem Knebelbart und der Schneckenhausnase hatte die Listen eines Gentleman, der silberne Löffel stiehlt, um sich zwecks Erlangung des erhofften Sessels in der Akademie der oder jener Herzogin, die über mehrere Stimmen verfügte, zu nähern und dabei niemanden, der in der Verfolgung eines solchen Zieles ein Laster sah, etwas von seinem Manöver merken zu lassen. Es glückte ihm nur halb. Man merkte, wie die Worte des wahren Bergotte mit denen des selbstsüchtigen, ehrgeizigen Bergotte abwechselten, der immer nur bedacht war, von mächtigen, vornehmen und reichen Leuten zu sprechen, um sich zur Geltung zu bringen, er, der doch in seinen Büchern, als er noch wirklich er selbst war, den quellenreinen Zauber der Armut gezeigt hatte.
Wenn nun aber die andern Laster, auf die Herr von Norpois anspielte, die blutschänderische Liebe, die angeblich noch mit Unzartheit in Geldangelegenheiten verquickt war, in verletzender Weise der Tendenz seiner letzten Romane widersprachen (in diesen herrschte so gewissenhafte und schmerzliche Besorgtheit um das Gute, daß davon die geringsten Genüsse der Helden vergiftet wurden und es den Leser in eine Beklemmung trieb, in der das mildeste Dasein schwer zu ertragen schien) –, so bewiesen diese Laster, auch wenn man sie Bergotte mit Recht zutraute, nicht, daß seine Literatur verlogen und soviel Feinfühligkeit nur Komödie sei. Wie in der Pathologie gewisse Zustände mit gleichen Erscheinungsformen, die einen von einer übermäßigen, die andern von einer ungenügenden Spannung oder Absonderung herrühren, so mag es auch Laster aus Überempfindlichkeit und Laster aus Mangel an Empfindlichkeit geben. Vielleicht kann nur vor einem wirklich lasterhaften Leben das moralische Problem in seiner ganzen beängstigenden Stärke aufgeworfen werden. Und diesem Problem gibt der Künstler nicht auf der Ebene seines individuellen Lebens, sondern da, wo für ihn sein wahres Leben ist, eine allgemeine, literarische Lösung. Wie die großen Doktoren der Kirche oft, in all ihrer Güte, ihr Werk damit anfingen, die Sünden aller Menschen kennen zu lernen, und daraus ihre persönliche Heiligkeit gewannen, so bedienen sich oft die großen Künstler, in all ihrer Schlechtigkeit, der eigenen Laster, um zur Schöpfung einer moralischen Regel für alle zu kommen. Die Laster (oder auch nur Schwächen und Lächerlichkeiten) des eigenen Lebenskreises, die leichtfertigen Reden, das frivole und anstößige Leben der eignen Tochter, die Treulosigkeit ihrer Frau oder ihre persönlichen Verfehlungen haben die Schriftsteller am häufigsten gegeißelt, ohne deshalb die üble Wirtschaft oder den schlechten Ton im eigenen Heim zu ändern. Ehedem war dieser Kontrast weniger auffallend als zu Bergottes Zeit, denn es verfeinerten sich die moralischen Begriffe in demselben Maße, in dem die Gesellschaft sich korrumpierte, und dann war jetzt das Publikum mehr als bisher über das Privatleben der Schriftsteller auf dem laufenden; an manchen Abenden zeigte man sich im Theater den Autor, den ich in Combray so bewundert hatte, dort in der Loge in einer Gesellschaft, deren Zusammenstellung allein schon ein ungewöhnlich lächerlicher oder peinlicher Kommentar, eine schamlose Verleugnung der These war, die er gerade in seinem letzten Werk verfochten hatte. Was die einen oder andern mir mitteilen konnten, gab mir keinen genaueren Aufschluß über die Güte oder Schlechtigkeit von Bergotte. Mancher, der ihm nahestand, lieferte Beweise für seine Härte, während irgend ein Unbekannter Beispiele seiner Gefühlstiefe anführte, die besonders ergreifend waren, weil sie offenbar hatten geheim bleiben sollen. Seine Frau hatte er grausam behandelt; aber in einem Dorfwirtshaus, in das er einmal übernachten kam, blieb er am Bett eines armen Weibes, das versucht hatte sich zu ertränken, und ließ, als er schließlich, genötigt war abzureisen, dem Wirt eine Menge Geld zurück, damit er die Unglückliche nicht verjage, sondern sich weiter ihrer annähme. Je mehr sich in Bergotte der große Schriftsteller auf Kosten des Mannes mit dem Knebelbart entwickelte, um so tiefer versank sein eigenes Leben in den Strom aller der Leben, die er sich vorstellte, und band ihn wohl kaum noch an tatsächliche Pflichten, die vielmehr ersetzt wurden durch die Pflicht, sich diese andern Leben vorzustellen. Und weil er nun die Gefühle der andern so deutlich sah, als wären es seine eigenen, konnte er bei gelegentlicher Berührung mit einem Unglücklichen, wenigstens vorübergehend, den Standpunkt dieses Leidenden statt seines persönlichen einnehmen, und von diesem Standpunkt aus mußte ihm die Sprache derer, die vor fremdem Schmerz weiter an ihre kleinen Interessen denken, ein Greuel sein. So kam es, daß er rings um sich gerechten Groll und unauslöschliche Dankbarkeit verbreitete.
Er war vor allem ein Mensch, der eigentlich nichts liebt als bestimmte Bilder und seine Tätigkeit, sie (wie eine Miniatur ins Innere eines Kästchens) in Worte einzufügen und einzumalen. Wenn man ihm irgendeine Kleinigkeit schickte, die ihm Gelegenheit bot, solche Bilder damit zu verknüpfen, zeigte er sich verschwenderisch im Ausdruck seiner Dankbarkeit, während er für ein reiches Geschenk oft nichts Derartiges äußerte. Hätte er sich vor einem Tribunal verteidigen müssen, er würde, ohne es zu wollen, seine Worte nicht nach dem Eindruck, den sie auf den Richter machen könnten, gewählt haben, sondern in Hinblick auf Bilder, die der Richter sicherlich nicht wahrnehmen konnte.
An jenem Tage, als ich ihn zum ersten Male bei Gilbertes Eltern sah, erzählte ich Bergotte, daß ich vor kurzem die Berma in Phèdre gesehen habe; er sagte, in der Szene, in der sie mit in Schulterhöhe erhobenem Arme stehen bleibt, – gerade einer der Szenen, der man so starken Beifall gespendet hatte –, habe sie mit adliger Kunst Meisterwerke beschworen, die sie vielleicht nie gesehen, eine Hesperide, die auf einer Metope in Olympia diese Geste mache, und auch die schönen Jungfrauen des alten Erechtheion. »Es ist vielleicht eine Eingebung, obwohl ich mir vorstellen kann, daß sie in die Museen geht. Es wäre interessant, das nachzuprüfen (›nachprüfen‹ war eine Lieblingswendung von Bergotte, und viele junge Leute, die ihm nie begegnet waren, hatten sie von ihm übernommen, indem sie durch eine Art Wirkung in die Ferne sprachen wie er).«
»Sie denken an die Karyatiden?« fragte Swann.
»Nein, nein,« sagte Bergotte, »außer in der Szene, in der sie der Oenone ihre Leidenschaft bekennt und mit der Hand die Bewegung der Hegeso auf der Stele des Kerameikos macht; es ist eine viel ältere Kunst, die sie wieder belebt. Ich sprach von den Koren des alten Erechtheion, und ich bekenne, daß es vielleicht СКАЧАТЬ