Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Wohl ist ein Kind dem Vater wie der Mutter ähnlich, allein vererbte Fehler und Vorzüge verteilen sich sehr seltsam in ihm; von zwei Eigenschaften, die bei dem Vater untrennbar schienen, findet man im Kinde nur die eine und zwar verbunden mit jenem Fehler der Mutter, der gerade mit ihr unvereinbar schien, und umgekehrt. Verkörperung einer seelischen Eigenschaft in einem mit ihr unverträglichen physischen Fehler ist ein häufig nachweisbares Gesetz kindlicher Ähnlichkeit. Von zwei Schwestern kann die eine mit dem stolzen Wuchs des Vaters den kleinlichen Geist der Mutter verbinden; die andere bietet des Vaters Geist, der sie ganz erfüllt, der Welt unter der äußeren Erscheinung der Mutter dar; die dicke Nase, der stämmige Bauch, ja sogar die Stimme der Mutter sind bei ihr Einkleidungen geworden von Gaben, die man in einem herrlichen Äußeren kannte. So kann man von jeder der beiden Schwestern mit gleicher Berechtigung sagen, daß sie mehr dem Vater oder mehr der Mutter gleicht als die andere. Allerdings war Gilberte das einzige Kind, aber es gab mindestens zwei Gilberten. Die beiden Naturen der Eltern mischten sich nicht nur in ihr, sie machten das Kind einander streitig, und auch das ist noch ein ungenauer Ausdruck und ließe vermuten, daß während der Zeit eine dritte Gilberte darunter litt, die Beute der beiden andern zu sein. Gilberte war abwechselnd die eine und die andere und immer nur ausschließlich die eine oder andre, das heißt außerstande, wenn sie gerade weniger gut war, darunter zu leiden, da die bessere Gilberte, infolge ihrer augenblicklichen Abwesenheit, diese Entartung nicht feststellen konnte. So stand es der weniger guten frei, sich unedler Vergnügung zu erfreuen. Sprach die andere mit dem Herzen ihres Vaters, so hatte sie weite Gesichtspunkte, man hätte mit ihr ein schönes, wohltätiges Unternehmen ins Werk setzen wollen; das sagte man ihr, aber im Augenblick der Entscheidung war schon wieder das Herz der Mutter an der Reihe; und dann gab dies die Antwort; man war enttäuscht, verwirrt – fast beunruhigt, wie angesichts einer Vertauschung der Personen – durch eine hämische Bemerkung, eine gemeine Grimasse, in der Gilberte sich gefiel, da sie aus dem stammten, was in diesem Moment gerade ihre eigne Natur war. Der Abstand zwischen beiden Gilberten war bisweilen so groß, daß man sich, übrigens vergeblich, fragte, was man ihr angetan habe, um sie so verändert zu finden. Zu dem Stelldichein, das sie uns selbst vorgeschlagen, kam sie nicht nur nicht, sie entschuldigte sich hinterher auch gar nicht; was immer ihren Entschluß geändert haben mochte, sie zeigte sich in der Folge ganz anders; und wenn sie nicht deutlich schlechte Laune zur Schau getragen hätte, an der zu merken war, daß sie sich schuldig fühle und Erklärungen ausweichen wolle, man hätte gemeint, ein Opfer jener Ähnlichkeit zu sein, die das Thema der Menächmen bildet, und gar nicht vor der Person zu stehen, die so artig um ein Wiedersehen gebeten hatte.
»Vorwärts, du läßt uns auf dich warten«, sagte die Mutter zu ihr.
»Ich bin hier so gut bei meinem Väterchen, möchte noch ein bißchen bleiben«, antwortete Gilberte und verbarg den Kopf unter dem Arme des Vaters, der ihr zärtlich mit den Fingern über das blonde Haar strich.
Swann gehörte zu den Männern, die lange in den Illusionen der Liebe gelebt und dann gesehen haben, wie der Wohlstand, den sie einer Anzahl Frauen verschafften, das Glück dieser Frauen erhöhte, ohne bei ihnen Dankbarkeit oder Zuneigung gegen den Wohltäter zu erwecken; in ihrem Kinde aber glauben solche Männer eine Neigung zu fühlen, die ihnen, in ihrem eigenen Namen verkörpert, ein Weiterleben nach dem Tode sichern wird. Wenn es keinen Charles Swann mehr gibt, wird es noch ein Fräulein Swann oder eine Frau X., geborene Swann geben, diese wird weiter den verschwundenen Vater lieben. Vielleicht sogar zu sehr lieben, mochte Swann denken, denn er antwortete Gilberte: »Du bist eine gute Tochter«, in dem gerührten Tone der Besorgnis, die allzu leidenschaftliche Zutunlichkeit eines Wesens, dem es bestimmt ist, uns zu überleben, für die Zukunft uns einflößt. Um sich seine Bewegung nicht anmerken zu lassen, mischte er sich in unsere Unterhaltung über die Berma. Er machte in leichthingeworfenem, etwas verdrossenem Tone – als wollte er sich nicht weiter mit seinen Worten identifizieren – darauf aufmerksam, wie durchdacht und mit welch ungeahnter Treffsicherheit die Schauspielerin zu Oenone sagte: »Du hast's gewußt!« Damit hatte er recht: dieser Tonfall hatte zum mindesten einen fühlbaren Wert und hätte dadurch mein Verlangen befriedigen können, unwiderlegbare Gründe für die Bewunderung der Berma zu finden. Aber gerade wegen seiner Klarheit genügte er diesem Verlangen nicht. Der Tonfall war so geschickt gewählt, sein Zweck und Sinn so deutlich, daß er für sich selbst zu bestehen schien und jede intelligente Künstlerin ihn sich aneignen konnte. Ein schöner Gedanke, aber wem er kam, der besaß ihn auch in vollem Maß. Der Berma blieb das Verdienst, ihn gefunden zu haben; aber kann man das Wort »finden« anwenden, wenn es sich darum handelt, etwas zu finden, das nicht anders wäre, wenn man es gegeben bekäme, etwas, das nicht eigentlich an unser Wesen geknüpft ist, da es ein anderer in der Folge nachbilden kann?
»Mein Gott, wie Ihre Anwesenheit das Niveau der Unterhaltung hebt!« sagte Swann zu mir, wie um sich bei Bergotte zu entschuldigen: er hatte im Kreise Guermantes die Gewohnheit angenommen, die großen Künstler einfach wie gute Freunde zu empfangen, denen man nur Lieblingsspeisen zu essen, Spiele zu spielen und auf dem Lande Gelegenheit zu angenehmem Sport geben will. »Mir scheint, wir sprechen etwas viel von Kunst.« »Das ist gut so, ich liebe das«, sagte Frau Swann und warf mir einen dankbaren Blick zu, aus Güte und auch, weil sie ihre früheren Aspirationen auf eine mehr intellektuelle Unterhaltung noch nicht aufgegeben hatte. Sodann redete Bergotte mit den andern, insbesondere mit Gilberte. Ich hatte ihm alles, was ich empfand, mit einer Freiheit gesagt, die mich selbst erstaunte. Sie kam daher, daß ich seit Jahren (im Laufe vieler Stunden der Lektüre und der Einsamkeit, in denen er mir ein besseres Ich gewesen) gewöhnt war, aufrichtig, offen und voll Vertrauen zu ihm zu sein; er schüchterte mich weniger ein als jemand, mit dem ich zum ersten Male СКАЧАТЬ