Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust страница 35

Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen

Автор: Marcel Proust

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027208821

isbn:

СКАЧАТЬ Phädra des sechsten Jahrhunderts, die senkrechte Haltung des Armes, die Locke, die marmorn wirkt, oh doch, ein starkes Stück, das zu erfinden. Darin liegt mehr Antike als in so manchen Büchern, die man heuer ›antikisch‹ nennt.«

      Da Bergotte in einem seiner Bücher eine berühmte Anrufung an die archaischen Statuen gerichtet hatte, waren für mich die Worte, die er jetzt aussprach, sehr klar und gaben mir neuen Anlaß, mich für das Spiel der Berma zu interessieren.

      Ich versuchte, sie in meinem Gedächtnis wiederzusehen so, wie sie in dieser Szene gewesen war, in der sie, wie ich mich erinnerte, den Arm in Schulterhöhe erhoben hatte. Und ich sagte mir: »Das ist die Hesperide von Olympia, das ist die Schwester einer der wunderbaren Beterinnen der Akropolis, das ist adlige Kunst.« Damit aber diese Gedanken mir die Geste der Berma verschönern könnten, hätte Bergotte sie mir vor der Aufführung liefern müssen. Wäre dann diese Haltung der Künstlerin tatsächlich vor mir sichtbar gewesen in dem Augenblick, wo das, was stattfindet, noch die Fülle der Wirklichkeit hat, ich hätte versuchen können, daraus die Idee archaischer Skulptur zu gewinnen. Was ich nun aber von der Berma in dieser Szene bewahrte, war eine nicht mehr zu modifizierende Erinnerung, geringfügig wie ein Bild, dem die tiefen Untergründe des Gegenwärtigen mangeln, in denen man graben und etwas wahrhaft Neues herausholen kann; solch einem Bilde läßt sich wohl nachträglich eine Auslegung aufzwingen, aber nachprüfen läßt sie sich nicht mehr, es fehlt ihr die Möglichkeit der objektiven Sanktion. Um sich an der Unterhaltung zu beteiligen, fragte mich Frau Swann, ob Gilberte daran gedacht habe, mir das zu geben, was Bergotte über Phèdre geschrieben hatte. »Meine Tochter vergißt alles«, fügte sie hinzu. Bergotte lächelte bescheiden und bestand darauf, das seien ein paar ganz unwichtige Seiten. »Aber es ist doch ein entzückendes Ding dieses Heftchen, dieser kleine ›tract‹«, erklärte Frau Swann, um sich als gute Wirtin zu zeigen und glauben zu machen, sie habe die Broschüre gelesen; sie liebte es nicht nur, Bergotte Komplimente zu machen, sondern auch eine Wahl unter dem, was er schrieb, zu treffen, ihm eine Richtung zu geben. Und tatsächlich inspirierte sie ihn, allerdings auf andere Art, als sie glaubte. Jedenfalls gab es zwischen der Eleganz des Salons von Frau Swann und einer ganzen Seite des Werkes von Bergotte starke Beziehungen, und die alten Leute von Heut können den Salon und das Werk abwechselnd eines als Kommentar des anderen benutzen.

      Nun ließ ich mich darauf ein, zu erzählen. Oft fand Bergotte meine Eindrücke nicht richtig, aber er ließ mich reden. Ich sagte, mir habe die grüne Beleuchtung in der Szene, in der Phèdre den Arm hebt, gefallen. »Ah, damit werden Sie dem Dekorationsmaler, der ein großer Künstler ist, Freude machen, ich werde es ihm erzählen, er ist sehr stolz auf diese Beleuchtung. Ich muß allerdings bekennen, daß ich persönlich sie nicht sehr liebe: da schwimmt alles in einer meergrünen Geschichte, die kleine Phèdre wirkt zu sehr wie ein Korallenzweig unten in einem Aquarium. Sie werden einwenden, das hebe die kosmische Bedeutung des Dramas hervor. Das ist wahr. Und doch wäre es besser für ein Stück, das sich bei Neptun abspielt. Ich weiß wohl, Neptuns Rache kommt auch vor. Mein Gott, ich verlange ja nicht, man soll immer nur an Port-Royal denken, aber schließlich ist doch das, was Racine erzählt hat, keine Liebesgeschichte von Seeigeln. Aber mein Freund hat das nun einmal so gewollt, und sehr stark ist es immerhin und im Grunde recht hübsch. Ja, und dann haben Sie es schließlich gern gehabt, Sie verstehen, nicht wahr, wir denken im Grunde darüber gleich. Es ist ein bißchen sinnlos, was er da gemacht hat, nicht wahr, aber schließlich ist es doch sehr klug.« Wenn Bergottes Meinung so der meinen entgegengesetzt war, zwang sie mich doch nicht zum Schweigen, machte mir nicht jede Antwort unmöglich wie die des Herrn von Norpois. Das beweist nicht, daß die Meinungen Bergottes weniger Wert und Gültigkeit hatten als die des Botschafters, im Gegenteil: ein starker Gedanke teilt seinem Widersprecher ein wenig von seiner Kraft mit. Da er teilhat am allgemeinen Wert alles Geistigen, fügt er sich ein, pfropft sich auf dem Geiste dessen, den er widerlegt, er ist mitten unter angrenzenden Gedanken, mit deren Hilfe der Angegriffene nun auch wieder einigen Vorteil gewinnt und den fremden Gedanken vervollständigt und berichtigt; und so wird die schließliche Formulierung in gewisser Weise das Werk der beiden, die disputierten. Nur auf Ideen, die genaugenommen keine sind, Ideen, die keine Anknüpfung, keinen Stützpunkt, keinen brüderlichen Zweig im Geiste des Gegners finden, kann dieser im Kampfe mit lauter Leere nichts antworten. Die Argumente des Herrn von Norpois (in Sachen der Kunst) schlössen jede Replik aus, weil sie ohne Wirklichkeit waren.

      Da Bergotte meine Einwürfe nicht ablehnte, gestand ich ihm, daß Herr von Norpois sie mißachtet habe. »Aber das ist doch ein alter Gimpel,« antwortete er, »er hat auf Sie losgehackt, weil er immer meint, einen Ausgekochten oder eine Molluske vor sich zu haben.« »Wie? Sie kennen Norpois?« fragte Swann. »Oh, der ist öde wie Regenwetter«, unterbrach seine Frau, die großes Vertrauen zu Bergottes Urteil hatte und wohl auch fürchtete, Herr von Norpois habe uns Schlechtes von ihr gesagt. »Ich wollte nach Tisch mit ihm plaudern, aber ich weiß nicht, lag es am Alter oder an der Verdauung, kurz, ich fand ihn so trottelig! Man müßte ihm was einspritzen wie einem Rennpferd!« »Ja, nicht wahr,« meinte Bergotte, »recht oft ist er gezwungen zu schweigen, um nicht vor dem Ende der Gesellschaft den Vorrat von törichten Einfällen zu erschöpfen, die seine Hemdbrust stärken und die weiße Weste schwellen.« »Ich finde Bergotte und meine Frau recht streng«, sagte Swann, der in seinem Hause die Rolle des gesunden Menschenverstandes übernommen hatte. »Ich gebe zu, daß Norpois Sie nicht sehr interessieren kann, aber von einem andern Standpunkt (Swann liebte es, die schönen Möglichkeiten des »bunten Lebens« zu sammeln) ist er doch merkwürdig, recht merkwürdig als Liebhaber.« Nachdem Swann sich versichert hatte, daß Gilberte ihn nicht hören konnte, fuhr er fort: »Als Norpois Sekretär in Rom war, hatte er in Paris eine Mätresse, in die er sehr verliebt war; da fand er Mittel und Wege, zweimal in der Woche die weite Reise zu machen, um sie zwei Stunden zu sehen. Es war übrigens eine sehr intelligente und damals entzückende Frau, jetzt ist sie eine Matrone. Und in der Zwischenzeit hat er viele andere gehabt. Ich wäre verrückt geworden, wenn die Frau, die ich liebte, in Paris wohnen müßte, während ich in Rom zurückgehalten wäre. Nervöse Leute müßten immer, wie das Volk sagt, ›unter ihrem Stande‹ lieben, damit das eigene Interesse die Geliebte ihnen ganz ausliefert.« In diesem Augenblick kam Swann zum Bewußtsein, welche Anwendung ich von diesem Grundsatz auf ihn und Odette machen konnte. Und da selbst bei überlegenen Wesen in Momenten, wo sie mit uns über dem Leben zu schweben scheinen, die Eigenliebe doch mesquin bleibt, wurde er von starker Mißstimmung gegen mich ergriffen. Aber das tat sich nur in der Unruhe seines Blickes kund. Im Augenblicke selbst sagte er mir nichts. Das darf nicht zu sehr wundernehmen. Als Racine, nach einer allerdings erfundenen Anekdote, deren Stoff sich aber alle Tage im Pariser Leben wiederholt, vor Ludwig XIV eine Anspielung auf Scarron machte, sagte der mächtigste König der Welt an dem Abend selbst nichts zu dem Dichter: am nächsten Tage fiel Racine in Ungnade.

      Da aber eine Theorie die Tendenz hat, ganz ausgedrückt zu werden, vervollständigte Swann, nach dieser ersten Minute der Gereiztheit (nachdem er sein Monocle abgewischt hatte), seinen Gedanken in Worten, die später in meinem Gedächtnis die Wichtigkeit einer prophetischen Warnung bekommen sollten, einer Warnung, die ich nicht beachtete. »Die Gefahr bei dieser Art Liebe ist, daß die Unterwerfung der Frau wohl die Eifersucht des Mannes für eine Weile beruhigt, aber auch anspruchsvoller macht. Es kommt soweit mit ihm, daß er seine Geliebte leben läßt wie die Gefangenen, bei denen Tag und Nacht Licht brennt, damit man sie besser bewachen kann. Und das endigt im allgemeinen mit Dramen.«

      Ich kam auf Herrn von Norpois zurück. »Trauen Sie ihm nicht, er hat eine böse Zunge«, sagte Frau Swann, und ihr Tonfall schien mir darauf hinzudeuten, daß Herr von Norpois schlecht von ihr gesprochen habe; auch sah Swann seine Frau mit tadelndem Blick an und, als wollte er sie hindern, mehr zu sagen.

      Indessen blieb Gilberte, die man schon zweimal gebeten hatte, sich zum Ausgehen fertig zu machen, bei uns zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater, an dessen Schulter sie sich schmeichlerisch lehnte. Nichts bildete auf den ersten Blick einen stärkeren Kontrast zu Frau Swann, die brünett war, als dieses junge Mädchen mit dem rotbraunen Haar und der goldblonden Haut. Aber nach einer Weile erkannte man bei Gilberte viele Züge – zum Beispiel die Linie der Nase, die der unsichtbare Künstler, dessen Meißel für mehrere Generationen arbeitet, СКАЧАТЬ