Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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Wäre ich weniger entschlossen gewesen, mich endgültig an die Arbeit zu machen, ich hätte vielleicht einen Anlauf genommen, um gleich zu beginnen. Da aber meine Entscheidung ausdrücklich war und innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in dem noch leeren Rahmen des folgenden Tages, wo alles sich so gut verteilte, weil ich noch nicht darin war, meine guten Vorsätze sich leicht verwirklichen mußten, war es besser, nicht einen Abend, an dem ich schlecht aufgelegt war, für den Anfang zu wählen, dem sich dann leider die folgenden Tage nicht günstiger zeigen sollten. Aber ich war vernünftig. Von einem, der jahrelang gewartet hatte, wäre es kindisch gewesen, eine Verzögerung von drei Tagen nicht auszuhalten. In dem sicheren Gefühl, bis übermorgen einige Seiten geschrieben zu haben, sagte ich meinen Eltern kein Wort mehr von meinem Entschluß; lieber wollte ich mich einige Stunden gedulden und dann meiner Großmutter, die sich trösten und überzeugen ließ, frisch begonnene Arbeit vorlegen. Leider war der nächste Tag dann nicht ganz dieser objektive, weiträumige Tag, den ich im Fieber erwartet hatte. Als er vorüber war, hatten meine Trägheit und mein mühsames Ankämpfen gegen gewisse innere Hindernisse einfach vierundzwanzig Stunden länger gedauert. Und als nach Verlauf einiger Tage sich meine Pläne nicht verwirklicht hatten, besaß ich nicht mehr die gleiche Hoffnung, daß sie es unmittelbar tun würden, und demgemäß nicht soviel Mut mehr, dieser Verwirklichung alles unterzuordnen: wieder fing ich an, abends lange aufzubleiben, da mich nicht mehr die Aussicht auf einen morgendlichen Beginn des Werkes verpflichtete, früh zu Bett zu gehen. Ehe ich neuen Aufschwung fand, brauchte ich einige Tage der Entspannung, und als ein einziges Mal meine Großmutter in mild enttäuschtem Tone den Vorwurf zu formulieren wagte: »Nun, man spricht von dieser Arbeit ja gar nicht mehr?«, grollte ich ihr und war überzeugt, sie wolle nicht einsehen, daß mein Entschluß unwiderruflich gefaßt sei, verzögere dadurch seine Ausführung noch mehr, vielleicht auf lange, ihre »Rechtsverweigerung« entmutige mich; und in diesem Zustand der Entmutigung wollte ich das Werk nicht beginnen. Sie fühlte, ihr Skeptizismus sei blindlings gegen einen Willen gestoßen. Sie entschuldigte sich, küßte mich und sagte: »Verzeih, ich werde nichts mehr sagen.« Und damit ich den Mut nicht verliere, versicherte sie mir, mit dem Tage, an dem ich mich wohlfühlen werde, komme obendrein die Arbeit von selbst.
Auch sagte ich mir, wenn ich mein Leben bei den Swann zubringe, mache ich's nicht wie Bergotte? Meinen Eltern schien ich bei all meiner Trägheit das für ein Talent günstigste Leben zu führen, da ich es in demselben Salon verbrachte wie ein großer Schriftsteller. Und doch kann niemand solch ein Talent von andern bekommen und davon entbunden werden, es selbst von innen heraus zu schaffen; das wäre ebenso unmöglich, als wolle man sich (unter Verstößen gegen alle Regeln der Hygiene und unter den schlimmsten Exzessen) dadurch gesund erhalten, daß man oft mit einem Arzt zusammen speist. Am ausgiebigsten aber ließ sich durch die Illusion, die mich und meine Eltern täuschte, Frau Swann blenden. Sagte ich zu ihr, ich könne nicht kommen, ich müsse zu Hause bleiben und arbeiten, so machte sie ein Gesicht, als tue ich mich gar zu wichtig und rede etwas töricht und prätentiös.
»Aber Bergotte kommt doch! Finden Sie, was er schreibt, nicht gut? Nächstens wird es sogar noch besser werden; denn im Zeitungsartikel ist er schärfer und konzentrierter als im Buche, wo er etwas weitläufig wird. Ich habe es durchgesetzt, daß er von jetzt ab den »leader article« im Figaro macht. Das wird dann ganz »the right man in the right place« sein.«
Und sie fügte hinzu:
»Kommen Sie, er wird Ihnen besser als irgend einer sagen, was Sie tun müssen.«
Und wie man einen Freiwilligen mit seinem Obersten zusammen einlädt und als läge es im Interesse meiner Karriere, als würden die Meisterwerke durch »Beziehungen« gemacht, hieß sie mich nicht versäumen, morgen bei ihr mit Bergotte zu speisen.
So wurde weder von Seiten der Swann noch von Seiten meiner Eltern, das heißt von denen, die in verschiedenen Momenten hinderlich zu werden drohten, etwas gegen das süße Dasein getan, in welchem ich Gilberte nach Belieben mit immer neuem Entzücken, wenn auch niemals mit Ruhe sehen konnte. Die gibt es in der Liebe nicht, denn, was man erreicht hat, ist nur ein neuer Ausgangspunkt für weiteres Begehren. Solange ich noch nicht zu ihr gehen konnte und die Augen auf ein unzugängliches Glück geheftet hielt, vermochte ich auch nicht, mir vorzustellen, welch neue Anlässe zur Unruhe bei ihr mich erwarteten. Nachdem einmal der Widerstand ihrer Eltern gebrochen und das Problem endlich gelöst war, stellte es sich von neuem, jedesmal in anderen Formen. In diesem Sinne begann tatsächlich mit jedem Tage eine neue Freundschaft. Jeden Abend wurde ich mir auf dem Heimwege darüber klar, daß ich Gilberte wesentlichste Dinge zu sagen habe, von denen unsere Freundschaft abhinge, und diese Dinge waren nie die gleichen. Aber ich war schließlich doch glücklich, und keine Drohung erhob sich mehr gegen mein Glück. Sie sollte leider von einer Seite kommen, auf der ich nie eine Gefahr gewahrt hatte, von Gilbertes und meiner eigenen Seite. Gerade das hätte mich beunruhigen sollen, was mich sicher machte, das, was ich für Glück hielt. Glück ist ein anormaler Zustand in der Liebe, der dem anscheinend einfachsten Ereignis, das immer eintreffen kann, eine Schwere zu geben vermag, die dies Ereignis an sich nicht hätte. Was so glücklich macht, ist die Gegenwart von etwas nicht Standfestem im Herzen, das man unablässig aufrechtzuerhalten bemüht ist und fast nicht mehr wahrnimmt, sobald es sich nicht von der Stelle bewegt. In Wirklichkeit gibt es in der Liebe ein dauerndes Leiden, das wohl von Freude neutralisiert, virtuell gemacht, vertagt wird, aber jeden Augenblick werden kann, was es längst wäre, wenn man nicht das Ersehnte erreicht hätte: entsetzlich.
Mehrere Male fühlte ich, daß Gilberte meine Besuche hinauszuschieben trachtete. Allerdings brauchte ich, wenn ich sie durchaus immer wieder sehen wollte, mich nur von ihren Eltern einladen zu lassen, die mehr und mehr von meinem ausgezeichneten Einfluß auf sie überzeugt waren. Sie sorgen dafür, so dachte ich, daß meine Liebe keine Gefahr läuft; wenn ich sie für mich habe, kann ich beruhigt sein, sie üben ihre ganze Autorität auf Gilberte aus. Zum Unglück ließ sich Gilberte gewisse Zeichen von Ungeduld entfahren, wenn ihr Vater mich sozusagen wider ihren Willen aufforderte zu kommen, und ich mußte mich fragen, ob das, was ich als einen Schutz meines Glückes angesehen, nicht vielmehr die heimliche Ursache seiner Bedrohung war.
Das letztemal, daß ich Gilberte besuchte, regnete es, sie war zu einer Tanzstunde eingeladen bei Leuten, die sie zu wenig kannte, um mich mitnehmen zu können. Wegen der Feuchtigkeit hatte ich mehr Kaffein als gewöhnlich genommen. Sei es wegen des schlechten Wetters, sei es aus Voreingenommenheit gegen die Familie, bei der die Gesellschaft stattfinden sollte, – Frau Swann rief ihre Tochter, als sie gerade im Begriff war wegzugehen, äußerst heftig zurück: »Gilberte!« Dabei zeigte sie auf mich, um anzudeuten, daß ich zu ihr gekommen sei und daß sie mit mir zusammenbleiben müsse. Dieses »Gilberte« war gesprochen oder vielmehr geschrien mit den besten Absichten für mich, doch an der Art, wie Gilberte die Schultern zuckte, während sie ihre Sachen ablegte, merkte ich, daß ihre Mutter, ohne es zu wollen, eine Entwicklung beschleunigt hatte, die bis dahin vielleicht noch hätte aufgehalten werden können, eine Entwicklung, die nach und nach meine Freundin mir entfremdete. »Man ist nicht verpflichtet, alle Tage tanzen zu gehen«, sagte Odette zu ihrer Tochter, und diese Weisheit hatte sie gewiß von Swann. Dann aber wurde sie wieder ganz Odette und fing an, englisch mit ihrer Tochter zu reden. Alsbald war es, als ob eine Mauer mir einen Teil von Gilbertes Leben verborgen, ein böser Geist meine Freundin weit von mir fortgetragen hätte. In einer Sprache, die wir kennen, haben wir der Undurchsichtigkeit der Laute die Transparenz der Ideen untergeschoben. Eine Sprache, die wir nicht kennen, ist ein verschlossener Palast, in dem die Geliebte uns betrügen kann, ohne daß wir draußen stehend in unserer verzweifelten, ohnmächtigen Aufregung irgend etwas zu sehen oder zu hindern vermöchten. In diesem Gespräch auf englisch, über das ich einen Monat früher nur gelächelt hätte, tauchten einige französische Eigennamen auf, die meine Unruhe noch vermehrten und ihr eine bestimmte Richtung gaben, und so wirkte СКАЧАТЬ