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und in einer Verspätung Gilbertes bei einem Stelldichein eine Regung des Unmuts, eine unheilbare Feindseligkeit zu erblicken. Ich versuchte zwischen diesen beiden in gleichem Maße entstellenden Perspektiven die zu finden, die mir die richtige Anschauung der Dinge gäbe; die Berechnungen, die ich zu diesem Zwecke anstellen mußte, zogen mich ein wenig von meinem Schmerz ab; und sei es aus Gehorsam gegen das Orakel der Zahlen, sei es, weil ich sie hatte sagen lassen, was ich wünschte – ich entschloß mich, am nächsten Tag zu den Swann zu gehen, glücklich wie die es immerhin sind, die sich lange mit dem Gedanken an eine Reise geplagt haben, die sie eigentlich nicht machen wollten, und dann nur gerade bis zum Bahnhof gehen und gleich wieder umkehren, ihre Koffer zu Hause auszupacken. Während man zaudert, entwickelt die bloße Vorstellung eines möglichen Entschlusses (so lange wenigstens, als man sie nicht entseelt hat durch den Vorsatz, diesen Entschluß nie zu fassen) wie lebendiger Samen alle Grundzüge und Einzelheiten, die aus dem vollzogenen Akt entstehen würden; in diesem Sinne sagte ich mir, daß es recht absurd von mir war, mich mit dem Plan, Gilberte nicht mehr zu sehen, so zu quälen, als müßte ich diesen Plan wirklich ausführen; und da doch alles nur darauf hinausliefe, daß ich schließlich zu ihr zurückkehren wollte, hätte ich mir solchen Aufwand an Willensregungen und schmerzlichen Annahmen ersparen können. Aber diese Wiederaufnahme der Freundschaftsbeziehungen dauerte nur so lange, bis ich zu den Swann kam, und zwar nicht deshalb, weil der Butler, der mich sehr gern hatte, mir sagte, Gilberte sei ausgegangen (ich erfuhr tatsächlich noch am selben Abend, daß dies stimmte, von Leuten, die sie getroffen hatten), sondern weil er es mir auf eine besondere Art sagte: »Das gnädige Fräulein ist ausgegangen, der Herr kann versichert sein, daß ich nicht lüge. Wenn der Herr sich selbst überzeugen wollen, so kann ich die Zofe kommen lassen. Der Herr können sich denken, daß ich alles, was in meinen Kräften steht, tun würde, um ihm gefällig zu sein, und ihn, wenn das Fräulein da wäre, sofort zu ihr führen würde.« Das waren Worte der einzig wichtigen Art, nämlich unabsichtliche, die uns eine mindestens summarische Radiographie der nicht zu ahnenden Wirklichkeit geben, die eine einstudierte Rede uns verborgen hätte; und in ihrer Arglosigkeit bewiesen sie mir deutlich, daß man in der Umgebung Gilbertes den Eindruck hatte, ich sei ihr lästig; aber kaum hatte der Butler diese Worte avisgesprochen, so säten sie in mir einen Haß, dem ich statt Gilberte lieber den Butler zum Gegenstande gab; er konzentrierte auf sich alle Zorngefühle, die ich gegen meine Freundin aufbrachte; seine Worte nahmen mir die Last dieser Gefühle ab, und in mir blieb nur meine Liebe übrig. Nun hatten mir aber die Worte angezeigt, daß ich eine Zeitlang nicht versuchen dürfte, Gilberte zu sehen. Sicherlich wird sie mir schreiben, um sich zu entschuldigen, sagte ich mir. Trotzdem werde ich sie nicht gleich wieder besuchen, ich will ihr beweisen, daß ich ohne sie leben kann. Habe ich erst einmal ihren Brief bekommen, so wird es mir leichter werden, eine Zeitlang den Verkehr mit Gilberte zu entbehren, denn ich werde sicher sein, sie wiederzufinden, sobald ich dann will. Not tat mir nur eins, um die freiwillige Abwesenheit mit weniger Traurigkeit zu ertragen: mein Herz mußte frei werden von der schrecklichen Ungewißheit, ob wir auch nicht für immer überworfen seien, ob sie nicht verlobt, verreist, entführt sei. Die folgenden Tage glichen jener Neujahrswoche, die ich ohne Gilberte hatte verbringen müssen. Damals aber war ich sicher gewesen, einmal, wenn die Woche vergangen, werde meine Freundin in die Champs-Élysées zurückkehren, und ich werde sie sehen wie zuvor; und nicht minder sicher, solange die Neujahrsferien dauerten, lohne es nicht die Mühe, in die Champs-Élysées zugehen. Solange also damals diese traurige, nun schon so ferne Woche dauerte, hatte ich meine Traurigkeit ruhevoll ertragen, denn sie war nicht mit Furcht und Hoffnung vermischt. Jetzt hingegen machte die Hoffnung in fast demselben Grad mein Leiden unerträglich wie die Furcht. Als ich am selben Abend keinen Brief von Gilberte bekam, schrieb ich das ihrer Nachlässigkeit, ihren Beschäftigungen zu und zweifelte nicht daran, des Morgens einen Brief von ihr vorzufinden. Und so wartete ich jeden Tag mit Herzklopfen, dem dann immer ein Zustand tiefer Niedergeschlagenheit folgte, wenn ich nur Briefe, die nicht von Gilberte waren, oder überhaupt nichts fand; letzteres war nicht schlimmer, denn die Beweise von anderer Leute Freundschaft machten die ihrer Gleichgültigkeit nur um so quälender für mich. Ich vertröstete mich auf die Nachmittagspost. Selbst in den Stunden, in denen keine Briefe ausgetragen wurden, wagte ich nicht auszugehen, denn vielleicht würde sie ihren überbringen lassen. Schließlich kam der Zeitpunkt, in dem weder ein Postbote noch ein Lakai der Swann mehr kommen konnte, und ich mußte die Hoffnung auf Gewißheit bis zum nächsten Morgen verschieben; und da ich meinte, mein Leiden würde nicht dauern können, war ich sozusagen verpflichtet, es beständig zu erneuern. Der Kummer war vielleicht der gleiche, statt aber wie früher eine anfängliche Erregung gleichmäßig zu verlängern, setzte er mehrere Male am Tage mit einer Erregung ein, die sich so häufig erneuerte, daß sie sich schließlich – die doch an sich rein physisch-momentaner Zustand war – stabilisierte; und da die Fieber der Erwartung kaum Zeit hatten, sich zu legen, bevor schon wieder neuer Anlaß zur Erwartung da war, gab es bald keine einzige Minute mehr, in der ich nicht in dieser Unruhe lebte, die man doch eigentlich kaum eine Stunde lang aushalten kann. So war mein Leiden unendlich qualvoller als zur Zeit jenes vergangenen Neujahrstages, denn diesmal fühlte ich statt der reinen einfachen Hinnahme des Leidens die Hoffnung, jeden Augenblick es schwinden zu sehen. Schließlich kam ich aber doch zur Hinnahme, ich begriff, daß sie endgültig sein müsse, und verzichtete für immer auf Gilberte, im eigensten Interesse meiner Liebe und, weil ich vor allem wünschte, daß Gilberte keine verächtliche Erinnerung an mich bewahre. Und damit sie nicht von meiner Seite eine Art Liebesgram vermute, ging ich von nun an noch weiter: wenn sie mir in der Folgezeit ein Stelldichein gab, nahm ich es oft zunächst an und schrieb ihr erst im letzten Moment, daß ich nicht kommen könne, wobei ich beteuerte, daß ich untröstlich sei, wie ich es mit Leuten getan hätte, die ich gar nicht sehen wollte. Diese Ausdrücke des Bedauerns, die man gewöhnlich für Gleichgültige aufhebt, müßten Gilberte eher von meiner Gleichgültigkeit überzeugen, schien mir, als es ein gleichgültiger Ton getan hätte, wie man ihn künstlich gerade der Geliebten gegenüber annimmt. Wenn ich ihr besser als mit Worten durch unablässig wiederholte Handlungen bewiese, daß ich keine Lust habe, sie zu sehen, würde sie vielleicht wieder Lust auf mich bekommen. Ach! Das wäre doch vergeblich gewesen; der Versuch, durch Fernbleiben in ihr die Lust auf ein Wiedersehen zu beleben, bedeutete, sie für immer verlieren: denn wenn diese Lust erwachte und ich wollte, daß sie andauere, so durfte ich zunächst nicht gleich nachgeben; die qualvollsten Stunden wären dann auch schon vergangen; jetzt und im Augenblick war sie mir unentbehrlich! Hätte ich sie doch nur warnen können: bald werde sie durch ein Wiedersehn nur noch einen sehr abgeschwächten Schmerz stillen, einen Schmerz, der nicht mehr wie jetzt hinreichender Anlaß zu einer Kapitulation, einer Versöhnung, einem Wiedersehn sein werde. Und wäre es später, wenn ihre Lust auf mich stark genug geworden, endlich soweit, daß ich ihr ohne Gefahr meine Lust auf sie gestehen könnte, dann werde diese einer so langen Abwesenheit nicht standgehalten haben, werde einfach nicht mehr vorhanden, Gilberte werde mir dann gleichgültig sein. Das wußte ich, aber ich konnte es ihr nicht sagen; sie hätte geglaubt, das Aufhören meiner Liebe bei zu langer Abwesenheit behaupte ich nur, damit sie mich bitte, schnell wieder zu ihr zu kommen. Inzwischen machte eine Maßnahme es mir leichter, mich selbst zu dieser Trennung zu verurteilen: damit Gilberte deutlich merke, daß es trotz meiner gegenteiligen Behauptungen mein Wille sei und nicht irgend ein Hindernis, nicht mein Gesundheitszustand, was mich abhielte, sie zu besuchen, wollte ich jedesmal, wenn ich vorher wußte, daß Gilberte nicht bei ihren Eltern sein, mit einer Freundin ausgehen und nicht zum Essen heimkommen werde, Frau Swann besuchen. (Sie war für mich wieder geworden, was sie zu der Zeit war, als ich ihre Tochter so schwer sehen konnte, in jenen Tagen, da Gilberte nicht in die Champs-Élysées kam und ich in der Akazienallee spazieren ging.) Auf diese Weise würde ich von Gilberte sprechen hören und sicher sein, daß sie dann auch von mir hören würde und dies in einer Art, die es ihr zeigen konnte, daß ich nicht mehr an ihr hing. Und wie alle Leidenden fand ich, daß meine traurige Lage schlimmer hätte sein können. Denn da ich freien Zutritt zu der Stätte hatte, wo Gilberte wohnte, sagte ich mir immer, obwohl ich entschlossen war, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen, ich könne ja meinen Schmerz, wenn er einmal zu heftig werden sollte, zum Schweigen bringen. Es war nur ein Eintagsunglück. Und selbst das sagt noch zuviel. Wie oft in jeder Stunde (und jetzt ohne die ängstliche Erwartung, die mich in den ersten Wochen nach unserer Entzweiung, bevor ich wieder zu den Swann ging, befangen hielt) wie oft sagte ich mir den Brief auf, den Gilberte mir bald schicken oder vielleicht selbst bringen
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