Название: Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen
Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027208821
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»Du weißt, was ich dir gesagt habe. Jetzt tu, was du willst.«
Gilberte blieb während des ganzen Frühstücks starr und gezwungen; nachher gingen wir auf ihr Zimmer. Da rief sie mit einmal unbedenklich und, als ob sie auch vorher keinen Augenblick Bedenken getragen habe: »Zwei Uhr! Sie wissen doch, das Konzert fängt um halb drei an.« Und sie sagte zu ihrer Hauslehrerin, sie solle sich eilen.
»Aber verdrießt das nicht Ihren Vater?« fragte ich.
»Durchaus nicht.«
»Er hatte doch Angst, es könne seltsam erscheinen wegen dieses Jahrestags.«
»Was macht es mir aus, was die andern denken? Ich finde es grotesk, sich in Gefühlsdingen um die andern zu kümmern. Man fühlt für sich, nicht für das Publikum. Mademoiselle, die wenig Zerstreuung hat, macht sich ein Fest daraus, in dies Konzert zu gehen; dessen will ich sie nicht berauben, um dem Publikum ein Vergnügen zu machen.«
Sie nahm ihren Hut.
Ich faßte ihren Arm: »Aber, Gilberte, es handelt sich nicht darum, dem Publikum eine Freude zu machen, sondern Ihrem Vater.«
»Sie haben mir hoffentlich keine Vorwürfe weiter zu machen!« rief sie mit harter Stimme und machte sich hastig los.
Eine noch kostbarere Vergünstigung widerfuhr mir von den Swann als die, in den Jardin d'Acclimatation oder ins Konzert mitgenommen zu werden. Sie schlossen mich nicht von ihrer Freundschaft zu Bergotte aus, die auch ein Grund des Zaubers war, den sie auf mich damals ausübten, als ich Gilberte noch nicht kannte und mir dachte, ihre vertraute Freundschaft zu dem göttlichen Greise würde sie mir zu der mit größter Leidenschaft geliebten Freundin machen, wenn die Verachtung, die ich ihr einflößen mußte, mir nicht die Hoffnung verwehrte, jemals von ihr in die Städte, die Bergotte liebte, mitgenommen zu werden. Da lud mich eines Tages Frau Swann zu einem großen Frühstück ein. Ich wußte nicht, wer die Gäste sein würden. Beim Eintritt ins Vestibül kam ich durch einen Zwischenfall, der mich einschüchterte, aus der Fassung. Selten versäumte es Frau Swann, die Gebräuche zu übernehmen, die während einer Saison für elegant gelten, sich dann nicht halten und bald wieder aufgegeben werden. So hatte sie vor Jahren ihr ›handsome cab‹ gehabt oder auf eine Einladung zum Frühstück drucken lassen, es sei ›to meet‹ eine mehr oder minder wichtige Persönlichkeit. Oft hatten diese Bräuche nichts Geheimnisvolles und erforderten keine Einweihung. So zum Beispiel die aus England importierte geringfügige Neuerung, die Odette veranlaßte, ihrem Gatten Karten drucken zu lassen, auf denen vor dem Namen Charles Swann ein Mr stand. Nach meinem ersten Besuche bei ihr hatte sie eine dieser ›cartons‹, wie sie sie nannte, bei mir abgegeben. Das hatte noch nie jemand getan; ich war ganz stolz. In meiner Aufregung und Dankbarkeit raffte ich alles Geld, das ich besaß, zusammen, bestellte einen herrlichen Korb Kamelien und sandte ihn Frau Swann. Flehentlich bat ich meinen Vater, seine Karte bei ihr abzugeben, sich aber erst neue machen zu lassen, auf denen vor seinem Namen ein Mr stehe. Er schlug mir beide Bitten ab, ein paar Tage hindurch war ich verzweifelt, dann fragte ich mich, ob er nicht doch am Ende recht habe. Die Verwendung eines Mr war, wenn auch zwecklos, immerhin klar. Das traf nicht zu für einen andern Gebrauch, der mir am Tage dieses Frühstücks entdeckt, nicht aber erklärt wurde. Im Augenblick, als ich vom Vorzimmer in den Salon ging, überreichte mir der Butler einen kleinen, länglichen Briefumschlag, auf dem mein Name geschrieben stand. Überrascht bedankte ich mich. Ich sah mir den Umschlag an, wußte aber nicht mehr damit anzufangen als etwa Fremde mit den kleinen Instrumenten, die man bei einem chinesischen Diner den Gästen gibt. Ich bemerkte, daß der Umschlag geschlossen war, fürchtete, es sei indiskret, ihn gleich zu öffnen, und tat ihn, als verstände sich das von selbst, in die Tasche. Frau Swann hatte mir ein paar Tage vorher geschrieben, zum Frühstück im kleinen Kreise zu kommen. Gleichwohl waren sechzehn Personen zugegen; daß sich darunter Bergotte befand, davon wußte ich nichts. Nachdem Frau Swann mich mehreren Gästen, wie sie es ausdrückte, genannt hatte, sprach sie plötzlich nach meinem Namen und in demselben Tonfall wie diesen (und als wären wir nur zwei Tischgenossen, die beide gleich froh sein müßten, einander kennen zu lernen) den Namen des holden Sängers im weißen Haar aus. Der Name Bergotte ließ mich auffahren wie der Knall eines auf mich abgeschossenen Revolvers, aber instinktiv, um Haltung zu wahren, verneigte ich mich; was sich da vor mir abspielte, war wie der Anblick eines Illusionisten, der unversehrt in seinem Gehrock mitten im Rauch des Schusses, aus welchem eine Taube aufflog, stehen bleibt: meinen Gruß erwiderte ein jugendlicher, kleiner, derber, untersetzter, kurzsichtiger Mann, mit roter, wie ein Schneckengehäuse gewundener Nase und schwarzem Kinnbart. Ich war zu Tode betrübt, denn was mir nun zu Staub zerfiel, war nicht allein der schwärmerische Greis, von dem nichts übrig blieb, es war zugleich die Schönheit eines gewaltigen Werkes, die ich wohl in dem hinfälligen, heiligen Organismus unterbringen konnte, den ich ausdrücklich für sie gebaut hatte, für die aber kein Platz war in dem gedrungenen Körper voller Blutgefäße, Knochen, Ganglien des kleinen Mannes da vor mir mit der Stumpfnase und dem schwarzen Knebelbart. Der ganze Bergotte, den ich mir selbst langsam und zart, wie einen Stalaktit Tropfen um Tropfen, aus der durchsichtigen Schönheit seiner Bücher erarbeitet hatte, dieser Bergotte war nun mit einem Schlag für den Augenblick nicht mehr zu brauchen; jetzt mußte ich die Schneckenhaus-Nase beibehalten, mußte den schwarzen Knebelbart verwenden; es ging mir wie mit einer Rechenaufgabe, bei der die gefundene Lösung nichts nützt, da wir die gegebenen Größen nicht genau gelesen haben und nicht im Auge behalten, daß das Ganze eine bestimmte Zahl geben muß. Nase und Knebelbart waren unvermeidliche, sehr störende Elemente geworden, die mich zwangen, die Persönlichkeit Bergottes ganz neu aufzubauen, sie schienen eine gewisse selbstzufriedene Geschäftigkeit anzudeuten, hervorzubringen und beständig abzusondern, die gegen alle Regeln war, denn sie hatte nichts gemein, mit der Art Erkenntnis, die sich in seinen mir so wohlbekannten Büchern voll sanft göttlicher Weisheit entfaltete. Von den Büchern ausgehend, wäre ich nie zu der Nase gelangt; ging ich aber von der Nase aus, die nicht danach aussah, als würde sie sich einschüchtern lassen, sondern witzig Cavalier seul tanzte, so geriet ich in eine ganz andere Richtung, nicht auf das Werk von Bergotte; dieser Weg mußte wohl zur Mentalität eines pressierten Ingenieurs führen, der, wenn man grüßt, es angezeigt glaubt zu sagen: ›Danke und Sie?‹, ehe man ihn noch nach seinem Ergehen gefragt hat, und wenn man ihm erklärt, man sei entzückt, seine Bekanntschaft zu machen, mit einer Abkürzung, die er für fein, klug und echt moderne Ersparnis eitlen Zeitverlustes hält, antwortet: ›Ganz meinerseits.‹ Namen sind zweifellos phantastische Zeichner, die uns von Leuten und Ländern so unähnliche Skizzen liefern, daß wir oft ganz betroffen dastehen, wenn wir statt der eingebildeten Welt die sichtbare vor uns haben (die übrigens auch nicht die wirkliche ist, denn unsere Sinne besitzen nicht in viel höherem Grade die Gabe, ähnlich zu zeichnen als die Einbildungskraft, und die annähernd gut getroffenen Zeichnungen, die man von der Wirklichkeit bekommen kann, sind mindestens ebenso verschieden von der gesehenen Welt als diese von der eingebildeten). Aber im Falle Bergotte war meine Voreingenommenheit durch den Namen nichts im Vergleich zu der durch das mir wohlbekannte Werk, an das ich nun, wie an einen Ballon, den Mann mit dem Knebelbart binden sollte, ohne zu wissen, ob es die Kraft haben würde, mit ihm aufzufliegen. Gleichwohl mußte er Verfasser der Bücher sein, die ich so geliebt СКАЧАТЬ