Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ – »Son­dern – son­dern«, dräng­te Fräu­lein La­nin und kniff die Au­gen zu­sam­men, was sie für ein Zei­chen vor­neh­mer Kalt­blü­tig­keit hielt.

      »Gleich­viel«, mein­te Rosa. »Ich wün­sche dir gu­ten Er­folg. Nur be­haup­te ich, dass lan­ge Pre­dig­ten nicht das rech­te Mit­tel sind. Ich we­nigs­tens wür­de mich da­für be­dan­ken.«

      »Ja – du – du«, fuhr Fräu­lein La­nin auf, »ich habe mich sehr in dir ge­täuscht, gute Rosa! Und von jetzt ab…«

      Fräu­lein Schank trat in das Zim­mer. Die Schü­le­rin­nen dräng­ten zu den Bän­ken; ein plötz­li­ches wir­res Durchein­an­der – der Lärm schar­ren­der Füße – das Klap­pen der Bü­cher – dann tie­fe Stil­le.

      Rosa und Fräu­lein Sal­ly muss­ten sich tren­nen. Die­se, in der Auf­wal­lung ver­letz­ter Freund­schaft un­ter­bro­chen, be­gab sich lang­sam an ih­ren Platz. Zu­wei­len schau­te sie auf Rosa zu­rück, zuck­te mit den Ach­seln und Au­gen­brau­en; dann fal­te­te sie die Hän­de über der fran­zö­si­schen Gram­ma­tik und saß still und er­ge­ben da, wie es ei­ner from­men Chris­tin ge­bührt. Die­se er­ge­be­ne Ruhe wich auch nicht von ihr, als Fräu­lein Schank tro­cken ver­lau­ten ließ: »Sal­ly La­nin.« Die­ses hieß so viel als: »Ste­hen Sie auf und zei­gen Sie, dass Sie die La Fon­tai­ne­sche Fa­bel von den zwei Rat­ten wie­der nicht ge­lernt ha­ben.« Nein! Fräu­lein Sal­ly hat­te die Fa­bel nicht ge­lernt. Sie er­hob sich lang­sam, ein bit­te­res Lä­cheln auf den Lip­pen, die Bli­cke träu­me­risch in die Fer­ne sen­dend. Nach­läs­sig warf sie ei­ni­ge Wor­te hin: »Un rat des champs – des champs – un rat.« Dann schwieg sie. »Ma­de­moi­sel­le!« rief Fräu­lein Schank. Fräu­lein Sal­ly aber hör­te nicht auf sie, sie dach­te gar nicht an die­se klein­li­che Per­son. Ver­klärt und geis­tes­ab­we­send stand sie da, wie Ami­na, die arme Nacht­wand­le­rin, wenn sie im vier­ten Akt dicht vor die Lam­pen tritt, um ihre große Arie zu sin­gen.

      »Set­zen Sie sich, Ma­de­moi­sel­le.« In Fräu­lein Schanks Mun­de klang das hüb­sche Wort Ma­de­moi­sel­le wie ein Schimpf­na­me. Ma­de­moi­sel­le setz­te sich auch; sie setz­te sich aber, weil sie es woll­te, nicht weil Fräu­lein Schank es be­fahl, das sah man ihr an.

      Fräu­lein Schank beug­te sich über ihr No­tiz­buch von häss­lich grau­er Far­be, eine un­er­bitt­li­che Si­byl­le mit brau­nen Ban­deaux, und ließ sich von dem win­zi­gen Schick­sals­bu­che das Schick­sal ei­nes ar­men Mäd­chens dik­tie­ren. »Rosa!« ver­setz­te sie end­lich, »sag du ein­mal her.« Rosa er­hob sich ein we­nig ver­wirrt, doch ge­wann sie bald ihre Fas­sung wie­der und mach­te ein sehr hoch­mü­ti­ges Ge­sicht, ein si­che­res Zei­chen, dass sie sich in der­sel­ben Lage wie ihre Freun­din be­fand. Sie be­gann: »Un rat…« Wei­ter je­doch konn­te oder woll­te sie nichts sa­gen. Fräu­lein Schank war­te­te eine Wei­le, dann sag­te sie be­trübt: »Also wie­der nichts! Setz dich.« Rosa setz­te sich. Tie­fes Schwei­gen. Fräu­lein Schank blät­ter­te in ih­rem Büch­lein, Rosa blick­te vor sich nie­der, als wäre nichts vor­ge­fal­len.

      »Wirk­lich Ma­de­moi­sel­le!« Rosa fuhr auf. Fräu­lein Schank hat­te ihr Büch­lein bei­sei­te ge­wor­fen und blick­te Rosa gif­tig an. »Wirk­lich Ma­de­moi­sel­le, es ist zu­viel von Ih­nen ver­langt, dass Sie Fran­zö­sisch oder über­haupt et­was ler­nen sol­len! Wozu auch? Für solch ein vor­neh­mes Fräu­lein ist es ge­nug, den gan­zen Tag um­her­zu­lau­fen und sich be­wun­dern zu las­sen. Das Ler­nen ha­ben Sie ja nicht nö­tig. Wenn man eine so si­che­re Zu­kunft hat, wozu denn? Ler­nen mag gut sein für ein ar­mes Mäd­chen, das ihr Brot selbst wird er­wer­ben müs­sen. Ja! Und das sei­nen ers­ten Un­ter­richt aus Barm­her­zig­keit von – von eben barm­her­zi­gen Leu­ten emp­fan­gen hat, und das nur hal­b­es Schul­geld zahlt. Nein, Ma­de­moi­sel­le, Sie brau­chen das nicht; Sie nicht. Gott be­wah­re.« Fräu­lein Schanks Stim­me hat­te die höchs­te Note er­reicht, dar­um ent­stand eine Pau­se; aber bald stieg neue Ent­rüs­tung in ihr auf. »Ich ver­ste­he dich nicht, lie­be Rosa. Mir kann’s ja gleich­gül­tig sein. Nur bin ich neu­gie­rig – was – was dar­aus wer­den soll. Ma­ri­an­ne Schulz, sa­gen Sie her.« Ma­ri­an­ne Schulz hat­te ro­tes Haar, vie­le Som­mer­spros­sen im Ge­sicht und hat­te die Fa­bel ge­lernt.

      Rosa senk­te den Kopf tief auf den Tisch nie­der und er­rö­te­te bis in die blon­den Löck­chen über die Stirn hin­ein; an ih­ren Wim­pern hin­gen di­cke Trä­nen. Sie wein­te und schäm­te sich ih­rer Trä­nen. Ihr lei­den­schaft­li­ches Kin­der­herz beb­te vor ohn­mäch­ti­gem Zorn ge­gen die­se alte Leh­re­rin, die sie ge­de­mü­tigt, sie als un­wis­sen­des, ar­mes, ver­ächt­li­ches Ge­schöpf hin­ge­stellt hat­te. Nie war ihr Le­ben ihr fa­den­schei­ni­ger, aus­sichts­lo­ser er­schie­nen als jetzt. Sie war und blieb Rosa Herz, die Toch­ter des Bal­let­tän­zers, die nur hal­b­es Schul­geld zahl­te, zwei Klei­der be­saß und fran­zö­si­sche Gram­ma­tik ler­nen muss­te, um sie viel­leicht einst selbst zu leh­ren, hier in dem dump­fen Ge­mach, von dem­sel­ben schä­bi­gen Ka­the­der aus, auf dem Fräu­lein Schank alt und häss­lich saß, bis sie selbst alt und häss­lich ge­wor­den sein wür­de und Kon­rad Lurch ge­hei­ra­tet hät­te, der sie lieb­te.

      Uner­träg­li­che Hit­ze wal­te­te im Ge­mach. Das Son­nen­licht fiel blen­dend auf die nack­ten Wän­de und be­schi­en grell die lan­gen Rei­hen wei­ßer Hals­krau­sen, glatt­ge­schei­tel­ter Mäd­chen­köp­fe und all die jun­gen, ru­hi­gen Ge­sich­ter. Es leg­te sich warm über die ro­si­gen Schlä­fen und wei­ßen Stir­nen, in die kein Fält­chen, kein Schat­ten die Spur ei­ner Ge­schich­te ge­schrie­ben hat­te.

      Es sprüh­te in den kla­ren, stil­len Au­gen und durch­leuch­te­te sie, dass man auf ih­ren Grund die sorg­lo­sen Kin­der­see­len zu er­bli­cken ver­mein­te – wie eine nichts­sa­gen­de klei­ne Ara­bes­ke auf dem Grund ei­ner Schüs­sel voll kla­ren Was­sers. Fräu­lein Schank do­zier­te mit ein­tö­ni­ger, sin­gen­der Stim­me die Leh­ren der fran­zö­si­schen Gram­ma­tik, und die erns­ten, fried­li­chen Mäd­chen­ge­sich­ter schau­ten zu ihr auf, als hät­ten sie nie et­was Wich­ti­ge­res und Auf­re­gen­de­res ver­nom­men als, dass das Ad­jek­ti­vum vor dem Wor­te gens in weib­li­cher, nach dem­sel­ben in männ­li­cher Form ge­braucht wer­de. Rosa saß noch im­mer über den Tisch ge­beugt da. Die Trä­nen wa­ren fort und die Wan­gen jetzt blass. Oh, sie litt! Sie woll­te nicht län­ger ver­ach­tet, lä­cher­lich und un­glück­lich sein! Sie woll­te flie­hen oder ster­ben – oder – sie wuss­te es nicht, aber au­ßer Fräu­lein Schank, der Schul­stu­be und Noël muss­te – muss­te es doch noch et­was ge­ben! Die gan­ze Leih­bi­blio­thek konn­te doch nicht lü­gen! Ganz ge­wiss woll­te sie mit Her­weg heu­te abend zu­sam­men­tref­fen, und sie woll­te ihm er­lau­ben, sie auf den Mund zu küs­sen, nur weil Fräu­lein Schank das miss­bil­li­gen wür­de. Was ging sie aber die alte Dame an?

      So­bald die Stun­de zu Ende war, eil­te Rosa ins Freie. Has­tig schritt sie die Gas­se hin­ab, den Kopf ge­senkt, die Hän­de hin­ter dem Rücken zu­sam­men­ge­fasst wie ein al­ter, sin­nen­der Herr. Auf dem Pfad, der bergab in den Stadt­gar­ten führ­te, be­gann sie zu lau­fen, so dass der Hut ihr in den Na­cken fiel und die Zöp­fe ihr den Rücken peitsch­ten. In der Nähe der Lau­be hielt sie still. Wa­rum eil­te sie so? Vom Lauf au­ßer Atem ge­bracht, leg­te sie die Hän­de auf die Brust. Wa­rum die Auf­re­gung? СКАЧАТЬ