Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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»Nein, mein Herz«, begann Sally, sobald die Pflaumen es gestatteten. »Nein, nein!« Und sich plötzlich unterbrechend, rief sie: »Lieber Lurch, können Sie etwas hören?«
»Ein wenig, Fräulein Sally«, verlautete die freundliche Stimme aus der Ecke. »Ich kann es nicht leugnen; ab und zu höre ich doch einiges.«
»Dann halten Sie sich die Ohren zu. Seien Sie so gut, ja?« – »Ohne weiteres, Fräulein Sally. Nur fürchte ich, wenn jemand käme und wollte etwas kaufen, so würde ich’s nicht hören.«
»Seien Sie unbesorgt! Ich werfe Sie dann mit einem Pflaumenkern.«
»Danke, Fräulein Sally. So, jetzt höre ich nichts mehr.«
»Nun denn«, nahm Sally ihre Erörterung wieder auf. »Du bedenkst nicht, liebe Rosa, dass das Familienleben, die Gesellschaft des Papa und dann, weißt du, der Umgang mit gebildeten, feinfühlenden Mädchen ihm guttun wird.«
»Meinst du?« warf Rosa zerstreut hin.
»Gewiss! So etwas verfehlt nie seinen Eindruck auf Männerherzen. Er sieht gut aus, sehr gut.« –
»So; braun?«
»Ja, goldbraunes Haar in Locken; große Augen.« Sally beschrieb mit dem Finger einen Kreis um ihr halbes Gesicht.
»In drei Tagen, denke ich, wird er hier sein. Dann lege ich die Trauer ab; es sind schon volle sechs Monate her, dass der arme Onkel starb. Papa sprach von einem Tanzabend. Du verstehst, um ihn zu zerstreuen. Ambrosius heißt er.«
»So hörte ich«, erwiderte Rosa und erhob sich, »begleitest du mich vielleicht?«
Nein, Sally mochte nicht spazierengehen, sie musste einen Roman zu Ende lesen, eine sehr spannende Erzählung: »Emmas Schmerz«. Sie fürchtete, ihre Heldin stehe im Begriff, sich das Leben zu nehmen. So – dann wollte Rosa allein gehen; es war zu warm im Zimmer. Sie küssten sich und standen noch einen Augenblick beieinander, dieses und jenes zu erörtern. Eine rote abendliche Sonne drang durch die trüben Fensterscheiben, blitzte auf den Blechbüchsen, erweckte in den Flaschen und Gläsern bunte Lichter, schlüpfte in die Ecken und Löcher, um farbige Punkte auf die staubigen Papiere zu streuen, suchte Lurch in seinem entlegenen Winkel auf und malte einen großen blau und roten Fleck auf seine bleiche Stirn.
»Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, mein Herz« – dann lachten sie, wie junge Mädchen bei Abschied und Wiedersehen es zu tun pflegen – und Rosa ging hinaus.
Die drückende Schwüle war vorüber, und die Straßen belebten sich. Alte Herren mit breitrandigen Strohhüten standen mitten auf dem Marktplatz und disputierten laut miteinander. Aus den Fenstern beugten sich Mägde, um Teppiche auszustäuben. Auf den Treppen saßen Frauen ohne Hut und strickten. In langen Reihen zogen die Gymnasiasten, Arm in Arm, die Gasse entlang. Über all dem stand ein blassblauer Himmel von schmalen, rosenroten Wolken durchzogen. – Leicht und fröhlich ging Rosa dahin. Sie grüßte die Vorübergehenden mit verbindlichem Kopfnicken und lächelte dabei ihr stets bereites, ausgelassenes Lächeln. Das Gefühl, dass der Sommerabend auch ihr, wie allem rings um sie, gut ließ, stimmte sie heiter.
»Ich habe die Ehre!« Klappekahl war es. Er zog vor Rosa seinen hohen Strohhut und blieb stehen. »Schönes Wetter! Wie geht es dem Papa?« Ein süßes Lächeln, das er ganz besonders für Damen bereithielt, umspielte seinen langen Mund. Er trug einen weißen Sommeranzug, eine rote Nelke im Knopfloch und ein Stöckchen, mit dem er nachlässig an seine Beine schlug.
»Ich danke«, erwiderte Rosa, »ich ließ ihn beim Nachmittagsschlaf.«
»So, so! Und die Tochter treibt sich derweil ein wenig herum. Ha – ha – junges Blut. Sie werden aber mit jedem Tage hübscher, Rosette.« Neckend legte er seine Hand auf den Arm des Mädchens. »Ohne Scherz! Ich sagte noch gestern zu meiner Tochter: ›Rosette Herz ist zu hübsch für unser Nest; die gehört in eine Weltstadt.‹ Auf Ehre, das sagte ich.« Rosa errötete und meinte, sie käme gern in eine große Stadt. Der Apotheker glaubte das wohl; er nickte, drückte Rosa die Hand und ging weiter, um zwei Schritte davon den Dr. Holte anzuhalten und mit dem Kopfe nach Rosa hindeutend zu sagen: »Ein hübsches Mädchen, Doktor, was? Aber kokett, ich sage Ihnen, wenn die in eine große Stadt kommt – ich stehe für nichts! Guten Abend, Doktor!«
Vor Steinings Konditorei saß Herweg mit einigen Kameraden, sorgsam hinter mageren Oleanderbüschen verborgen. Als er Rosa erblickte, grüßte er, und sie nickte ernst zum grünen Laubgitter hinein. Kaum aber war sie weitergegangen, als sie Herwegs schweren Schritt hinter sich vernahm. Sie wusste, so musste es sein; so war es jeden Abend. Treulich folgte er ihr lange Stunden, zuweilen eine Schwenkung machend, um ihr zu begegnen und sie immer wieder zu grüßen. Das war der Ausdruck seiner Liebe.
Am morschen Geländer des Flussufers machte Rosa Halt. Herweg kam heran und lehnte neben ihr. Ein stetes Gemurmel sandte der Fluss empor. Im Strudel, den das Wasser hier bildete, schwammen bewegliche Lichtfetzen. Ein flaches, gelbes Land dehnte sich auf dem entgegengesetzten Ufer aus. Große Sandgruben lagen voll roten Lichtes, und hinter der Wellenlinie der niedrigen Sandhügel ging die Sonne groß und rot unter.
»Das ist schön, Rosa, nicht?« rief Herweg und deutete zur Sonne hinüber. Rosa nickte, die Blicke nachdenklich in den Glanz verloren. »Schauen Sie dort das Feld!« fuhr Herweg fort. »Es ist ganz rot. So rot habe ich’s noch nie gesehen.«
In der Tat! Ein grelles Purpurlicht badete das Land. Es schien zu beben und zu flackern. Dann ward es blasser und erlosch. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden. Ein milderes Scheinen klomm den Himmel hinan, ein blasses, gewässertes Gold, wie an alten Meßgewändern. Eine Schar winziger Wölkchen flatterte in einem fast СКАЧАТЬ