Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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»Ah!« versetzte Rosa zerstreut, »ich kenne das. Sie hat ihrer gelähmten Mutter, der ganz alten Schank, solch ein Kleid gekauft.«
»So? Ich weiß davon nichts. Du wirst ja sehen. Mir hat es gefallen, und sie sagt, es sei wohlfeil und dauerhaft. Mein armes Kind! Teure Kleider kann ich dir ja nicht geben; das weißt du. Wenn ich könnte, ich wollte meine Rosa herausputzen! Aber du bist ja in jedem Kleide hübsch.« Die hellblauen Augen schauten zärtlich zu dem mürrisch daliegenden Mädchen hinüber, und sie wurden feucht von den Tränen, die so leicht die Augen alter Leute überfluten. Er küsste seine Tochter vorsichtig auf den Scheitel und flüsterte: »Komm! Die Agnes ist mit dem Essen fertig.« – »Ah«, meinte Rosa und legte ihren Arm in den ihres Vaters.
Während des Mahles war Herr Herz äußerst lustig, fast ausgelassen. Er stellte sich ungeschickt beim Vorschöpfen der Suppe, neckte Agnes, erzählte aus seiner Ballettänzerlaufbahn viele seltsame Geschichten, die er schon hundert Mal erzählt hatte, und um das Gespräch von vorhin vollends vergessen zu machen, fügte er ihnen kleine gewagte Ausführungen mit halber Stimme bei, wenn Agnes das Zimmer verließ, um etwas zu holen. Rosa lächelte nur matt. In diesem eigensinnigen blonden Kopf war heute die feste Überzeugung entstanden, dort – irgendwo, fern von der Heimat – läge eine schöne, ergötzliche Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauchte nur die Hand auszustrecken, um alles Schöne zu fassen. Bitteren Groll hegte Rosa heute gegen die alte, enge Stube mit ihren lächerlichen Möbeln, ihrem schläfrigen Frieden, Groll gegen die ganze widerwärtige Stadt, selbst gegen ihren Vater, der aus der großen Welt in dieses kleinliche Nest flüchten konnte, um fortan nur für den Klub, für Klappekahl und für Lanin zu schwärmen. Da stand die gute Agnes Stockmaier in ihrem weißen Kleide. So hatte dieses große weiße Gesicht immer dreingeschaut, seit Rosa denken konnte. Diese grauen Augen hatten stets so ruhig vor sich hingeblickt, als wären Augen nur auf der Welt, um zu sehen, ob Staub auf der Kommode liege oder ob das Tischtuch Falten schlüge. Oh, und diese Suppe mit ihren Fettaugen, dieser Braten mit seiner langen Sauce! Rosa hatte sie jahraus, jahrein gegessen; täglich hatten sie die Wohnung mit ihrem Duft erfüllt. Gott ja, es war unerträglich klein, gewöhnlich, lächerlich! Ein Gefühl der Rebellion, der Verachtung alles dessen, was es kannte und besaß, stieg in der Brust dieses jungen Mädchens auf, in dessen Leben das größte Ereignis bisher ein Tanzabend bei Klappekahls gewesen war.
Rosa mochte nicht ausgehen. Sie wollte bis zum Abend daheim bleiben und sich immer tiefer in ihre unklaren Grübeleien vergraben. Ihr Vater gab sich, wie gewöhnlich, seinem Mittagsschlummer hin; Agnes klapperte beim Abräumen leise mit dem Tischgerät. Rosa lehnte am Fenster, und ihre runden blauen Augen sahen unverwandt hinaus.
Die Stille des Sommernachmittages war auf das Städtchen niedergestiegen. Am zartblauen Himmel standen glänzende Wolkenhaufen, wie Ballen weißer Wolle. Die Pflastersteine waren so hell beschienen, dass Rosa große Käfer auf ihnen erspähen konnte. Sie krochen langsam dahin, blieben plötzlich, wie sinnend, stehen und hatten runde, stahlblaue Leiber, dann kam eine Eintagsmücke durch den Sonnenschein geflogen.
Rosa hatte lange hinausgestarrt. Mechanisch und gedankenlos war sie allen Vorgängen draußen gefolgt. Ihre Augen hatten immer starrer vor sich hingeblickt, hatten sich endlich geschlossen, der Kopf war auf den Arm niedergesunken – Rosa schlief, und das blonde Köpfchen im offenen Fenster schien auch ein Stück des trägen Nachmittaggoldes zu sein, das dort auf der Fensterbank liegengeblieben.
Als ein roter Sonnenstrahl ihre Augen traf, erwachte Rosa. Sie war allein im Gemach; ihr Vater hatte sich leise fortbegeben. Ringsum auf den alten Möbeln und Sachen lag blassrotes Licht. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Auf dem Gartenzaune saß des Pfarrers Bube und biss in eine gelbe Frühbirne. Die Kastanienwipfel wiegten sich sachte hin und her. Eine Katze stand ruhig auf einem Dach und schaute über die Stadt hin, während die Sonnenstrahlen zwischen ihren Beinen hindurchschlüpften und ihren Leib vergoldeten. Der weiße Wolkenhügel von vorhin war fort; die Wölkchen waren auseinandergezogen und lagen jetzt verstreut über das tiefe Himmelsblau,
Es war lustig! – Rosa rieb sich die Augen und dachte darüber nach, was es doch war, das sie vorhin betrübt hatte. Sie entsann sich dessen wohl; aber es erschien ihr jetzt gering. Fräulein Schank, das Kleid mit den gelben Erbsen, die Fabel, ihr alter Vater, das alles war kein Grund, sich ernstlich zu grämen. Brauchte sie denn das enge Leben zu teilen? Gehörte ihre anziehende Person mit den blauen Augen und dem goldenen Haar nicht ihr? Konnte sie denn mit ihrem Leben nicht anfangen, was sie wollte? Was konnte sie nicht alles Tolles, Unerhörtes beginnen. Noch wollte sie warten; СКАЧАТЬ