Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ ge­dan­ken­voll die gel­be Ta­pe­te. Da lach­te Herr Herz plötz­lich auf. Ein lus­ti­ger Ein­fall war ihm ge­kom­men: »Weißt du, mein Kind, wir ler­nen bei­de die­se Fa­bel. La Fon­tai­nes Fa­beln habe ich frü­her gut ge­kannt. Sie sind lus­tig. Da­mals sprach ich das Fran­zö­si­sche wie ein Pa­ri­ser. Wie man das al­les ver­gisst! Gern wür­de ich’s auf­fri­schen. Ah! Du wirst se­hen, was für ein schlech­tes Ge­dächt­nis ich habe. Wir wer­den da­bei la­chen müs­sen«, und Herr Herz lach­te schon jetzt. Ro­sas Teil­nahms­lo­sig­keit aber mach­te ihn mu­ti­ger, er ward ernst und vä­ter­lich. Fräu­lein Schank hat­te nicht so ganz un­recht. Man­ches Wah­re lag in dem, was sie ge­sagt hat­te. Es war ihm nicht ver­gönnt ge­we­sen, ein Ver­mö­gen zu er­wer­ben, und man­ches ver­dank­te er der Wohl­tä­tig­keit an­de­rer. Jetzt be­klag­te er das. Aber, du lie­ber Gott, in der Ju­gend, wer denkt da an so et­was! Nun war es zu spät. Drum soll­te Rosa lieb und ver­nünf­tig sein; soll­te es mit der gu­ten Schank nicht ver­der­ben, die es treff­lich mein­te und, wenn Rosa ihr Ex­amen be­stan­den, ihr eine Stel­le als Leh­re­rin in der Töchter­schu­le ver­schaf­fen woll­te. Das war auch der Wunsch der Tan­te Ina ge­we­sen. Für ihn selbst wäre es ein großer Trost, sei­ne Toch­ter in ge­si­cher­ter, ge­ach­te­ter Stel­lung zu wis­sen, wenn er nicht mehr sein wür­de. Sei­ne Stim­me wur­de weich, und er fuhr sich mit der Hand über die Au­gen. Der Ge­dan­ke an sei­nen Tod rühr­te ihn. »Ja – ja! Wenn man dei­nen al­ten Papa hin­aus­tra­gen wird«, wie­der­hol­te er; »die Schank, ich hab’s selbst ge­hört, sag­te zu dei­ner gu­ten Tan­te Ina: ›Wenn die Klei­ne dich ver­lie­ren soll­te, Ina, du weißt es, ich bin dei­ne Freun­din, ich über­neh­me dei­ne Pf­lich­ten.‹ Dann küss­ten sich die bei­den gu­ten Frau­en­zim­mer und wein­ten mit­ein­an­der. Vor­hin, als sie bei mir war, und sie war recht auf­ge­bracht, sag­te sie doch, sie habe ge­hört, du hät­test ein neu­es Kleid nö­tig. Sie sei be­reits bei Pal­tow ge­we­sen und habe einen wohl­fei­len, dau­er­haf­ten Stoff ge­fun­den. Sie zeig­te mir die Pro­be. Sehr hübsch! Braun, mit run­den gel­ben Punk­ten, so wie Erb­sen un­ge­fähr.«

      »Ah!« ver­setz­te Rosa zer­streut, »ich ken­ne das. Sie hat ih­rer ge­lähm­ten Mut­ter, der ganz al­ten Schank, solch ein Kleid ge­kauft.«

      »So? Ich weiß da­von nichts. Du wirst ja se­hen. Mir hat es ge­fal­len, und sie sagt, es sei wohl­feil und dau­er­haft. Mein ar­mes Kind! Teu­re Klei­der kann ich dir ja nicht ge­ben; das weißt du. Wenn ich könn­te, ich woll­te mei­ne Rosa her­aus­put­zen! Aber du bist ja in je­dem Klei­de hübsch.« Die hell­blau­en Au­gen schau­ten zärt­lich zu dem mür­risch da­lie­gen­den Mäd­chen hin­über, und sie wur­den feucht von den Trä­nen, die so leicht die Au­gen al­ter Leu­te über­flu­ten. Er küss­te sei­ne Toch­ter vor­sich­tig auf den Schei­tel und flüs­ter­te: »Komm! Die Ag­nes ist mit dem Es­sen fer­tig.« – »Ah«, mein­te Rosa und leg­te ih­ren Arm in den ih­res Va­ters.

      Wäh­rend des Mah­les war Herr Herz äu­ßerst lus­tig, fast aus­ge­las­sen. Er stell­te sich un­ge­schickt beim Vor­schöp­fen der Sup­pe, neck­te Ag­nes, er­zähl­te aus sei­ner Bal­let­tän­zer­lauf­bahn vie­le selt­sa­me Ge­schich­ten, die er schon hun­dert Mal er­zählt hat­te, und um das Ge­spräch von vor­hin vollends ver­ges­sen zu ma­chen, füg­te er ih­nen klei­ne ge­wag­te Aus­füh­run­gen mit hal­ber Stim­me bei, wenn Ag­nes das Zim­mer ver­ließ, um et­was zu ho­len. Rosa lä­chel­te nur matt. In die­sem ei­gen­sin­ni­gen blon­den Kopf war heu­te die fes­te Über­zeu­gung ent­stan­den, dort – ir­gend­wo, fern von der Hei­mat – läge eine schö­ne, er­götz­li­che Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauch­te nur die Hand aus­zu­stre­cken, um al­les Schö­ne zu fas­sen. Bit­te­ren Groll heg­te Rosa heu­te ge­gen die alte, enge Stu­be mit ih­ren lä­cher­li­chen Mö­beln, ih­rem schläf­ri­gen Frie­den, Groll ge­gen die gan­ze wi­der­wär­ti­ge Stadt, selbst ge­gen ih­ren Va­ter, der aus der großen Welt in die­ses klein­li­che Nest flüch­ten konn­te, um fort­an nur für den Klub, für Klappe­kahl und für La­nin zu schwär­men. Da stand die gute Ag­nes Stock­mai­er in ih­rem wei­ßen Klei­de. So hat­te die­ses große wei­ße Ge­sicht im­mer drein­ge­schaut, seit Rosa den­ken konn­te. Die­se grau­en Au­gen hat­ten stets so ru­hig vor sich hin­ge­blickt, als wä­ren Au­gen nur auf der Welt, um zu se­hen, ob Staub auf der Kom­mo­de lie­ge oder ob das Tisch­tuch Fal­ten schlü­ge. Oh, und die­se Sup­pe mit ih­ren Fet­tau­gen, die­ser Bra­ten mit sei­ner lan­gen Sau­ce! Rosa hat­te sie jahraus, jahrein ge­ges­sen; täg­lich hat­ten sie die Woh­nung mit ih­rem Duft er­füllt. Gott ja, es war un­er­träg­lich klein, ge­wöhn­lich, lä­cher­lich! Ein Ge­fühl der Re­bel­li­on, der Ver­ach­tung al­les des­sen, was es kann­te und be­saß, stieg in der Brust die­ses jun­gen Mäd­chens auf, in des­sen Le­ben das größ­te Er­eig­nis bis­her ein Tanz­abend bei Klappe­kahls ge­we­sen war.

      Rosa moch­te nicht aus­ge­hen. Sie woll­te bis zum Abend da­heim blei­ben und sich im­mer tiefer in ihre un­kla­ren Grü­belei­en ver­gra­ben. Ihr Va­ter gab sich, wie ge­wöhn­lich, sei­nem Mit­tags­schlum­mer hin; Ag­nes klap­per­te beim Abräu­men lei­se mit dem Tisch­ge­rät. Rosa lehn­te am Fens­ter, und ihre run­den blau­en Au­gen sa­hen un­ver­wandt hin­aus.

      Die Stil­le des Som­mer­nach­mit­tages war auf das Städt­chen nie­der­ge­stie­gen. Am zart­blau­en Him­mel stan­den glän­zen­de Wol­ken­hau­fen, wie Bal­len wei­ßer Wol­le. Die Pflas­ter­stei­ne wa­ren so hell be­schie­nen, dass Rosa große Kä­fer auf ih­nen er­spä­hen konn­te. Sie kro­chen lang­sam da­hin, blie­ben plötz­lich, wie sin­nend, ste­hen und hat­ten run­de, stahl­blaue Lei­ber, dann kam eine Ein­tags­mücke durch den Son­nen­schein ge­flo­gen.

      Rosa hat­te lan­ge hin­aus­ge­st­arrt. Mecha­nisch und ge­dan­ken­los war sie al­len Vor­gän­gen drau­ßen ge­folgt. Ihre Au­gen hat­ten im­mer star­rer vor sich hin­ge­blickt, hat­ten sich end­lich ge­schlos­sen, der Kopf war auf den Arm nie­der­ge­sun­ken – Rosa schlief, und das blon­de Köpf­chen im of­fe­nen Fens­ter schi­en auch ein Stück des trä­gen Nach­mit­tag­gol­des zu sein, das dort auf der Fens­ter­bank lie­gen­ge­blie­ben.

      Als ein ro­ter Son­nen­strahl ihre Au­gen traf, er­wach­te Rosa. Sie war al­lein im Ge­mach; ihr Va­ter hat­te sich lei­se fort­be­ge­ben. Rings­um auf den al­ten Mö­beln und Sa­chen lag blass­ro­tes Licht. Von der Stra­ße tön­ten Stim­men und Schrit­te her­auf. Auf dem Gar­ten­zau­ne saß des Pfar­rers Bube und biss in eine gel­be Früh­bir­ne. Die Kas­ta­ni­en­wip­fel wieg­ten sich sach­te hin und her. Eine Kat­ze stand ru­hig auf ei­nem Dach und schau­te über die Stadt hin, wäh­rend die Son­nen­strah­len zwi­schen ih­ren Bei­nen hin­durch­schlüpf­ten und ih­ren Leib ver­gol­de­ten. Der wei­ße Wol­ken­hü­gel von vor­hin war fort; die Wölk­chen wa­ren aus­ein­an­der­ge­zo­gen und la­gen jetzt ver­streut über das tie­fe Him­mels­blau,

      Es war lus­tig! – Rosa rieb sich die Au­gen und dach­te dar­über nach, was es doch war, das sie vor­hin be­trübt hat­te. Sie ent­sann sich des­sen wohl; aber es er­schi­en ihr jetzt ge­ring. Fräu­lein Schank, das Kleid mit den gel­ben Erb­sen, die Fa­bel, ihr al­ter Va­ter, das al­les war kein Grund, sich ernst­lich zu grä­men. Brauch­te sie denn das enge Le­ben zu tei­len? Ge­hör­te ihre an­zie­hen­de Per­son mit den blau­en Au­gen und dem gol­de­nen Haar nicht ihr? Konn­te sie denn mit ih­rem Le­ben nicht an­fan­gen, was sie woll­te? Was konn­te sie nicht al­les Tol­les, Un­er­hör­tes be­gin­nen. Noch woll­te sie war­ten; СКАЧАТЬ