Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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Was kannte Herr Klappekahl nicht! Und hier hatte er, wie sonst immer, recht. Rosas Mutter war Ballettänzerin, ihr Vater Ballettänzer gewesen. Während des rastlosen Umherziehens von einer Stadt zur anderen war Rosa geboren worden; doch kostete ihre Geburt der armen Madame Herz das Leben. Herr Herz – traurig, einsam, des Tanzens müde, sehnte sich danach, sein unstetes Leben mit einem ruhigeren zu vertauschen. Auf diesem Standpunkte angelangt, gedachte er wieder seiner Heimatstadt.
Als Knabe hatte er sie verlassen, zum Leidwesen seines Vaters, des braven Schustermeisters Herz, um, statt für die Füße anderer Leute zu sorgen, sich mit den seinigen unsterblichen Ruhm zu erwerben. Jetzt sehnte sich sein alterndes Herz nach der friedlichen Heimat zurück. Sein Vater war längst tot, aber eine Schwester lebte ihm noch; eine musterhafte Schwester. Als Herr Herz von dem Verluste seiner Gattin betroffen ward, langte ein schwarzgerändertes Schreiben von Frl. Ina Herz an, voll schwesterlichen Bedauerns und frommer Ermahnungen. Am Schluss meinte die gute Seele: Da die kleine Rosa der mütterlichen Pflege beraubt sei, möge man ihr das Kind bringen; sie wolle für dasselbe sorgen und ihm eine zweite Mutter sein. – Gerührt von soviel Liebe, beschloss Herr Herz, nicht nur das Kind, sondern auch sich selbst der Sorgfalt seiner guten Schwester anzuvertrauen. So begab er sich denn mit seiner Tochter in seine Heimatstadt zurück.
Anfangs zwar war Fräulein Ina über diese Wendung der Dinge ein wenig bestürzt; aber ihre mutige Seele fand sich selbst in die neue Lebenslage hinein. Die ganze Familie Herz versammelte sich traulich um einen Herd und lebte in Eintracht von dem kleinen Vermögen des Fräulein Ina, denn Herr Herz hatte aus seiner langen Künstlerlaufbahn nur steife Beine und greise Haare gerettet. »Ertanztes Geld«, meinte er – und er hatte seinerzeit viel ertanzt – »sei, weiß es Gott, das unbeständigste der Welt!«
Fräulein Ina pflegte ihre Schutzbefohlenen mit jener zarten Aufopferung, die besonders alten Frauenherzen eigen zu sein scheint, denen das Leben es lange Zeit versagt hat, ihre Liebebedürftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die müden Füße des Ballettänzers durften jetzt in bequemen Pantoffeln ausruhen, und die stille, geordnete Häuslichkeit gewährte dem geplagten Komödianten-Herzen ein tiefes Behagen. Herr Herz wurde mit seiner alten Schwester selbst zur alten Jungfer. Er besuchte fleißig die Kirche, ward Mitglied des Armenvereines; sammelte eifrig die kleinen Ereignisse der Stadt, um sie eifrig wieder auszutragen. Sah man die Geschwister Herz beieinander, so fand man mehr männliche Entschlossenheit in Fräulein Ina als in ihrem Bruder.
Auf die kleine Rosa ward die äußerste Sorgfalt verwandt. Fräulein Ina ließ das Kind nicht aus den Augen; es musste zu ihren Füßen auf dem Teppich spielen, sie sang es des Abends mit tiefer, heiserer Stimme in den Schlaf; sie nahm es stets in die Kirche mit. Rosa schlief zwar während des ganzen Gottesdienstes; Fräulein Ina jedoch meinte, der bloße Aufenthalt in dem heiligen Raum müsste guttun; vielleicht hoffte sie auch dadurch gewisse weltliche Einflüsse zu bannen, die bei der Geburt des Kindes gewaltet haben mochten.
Nachdem Herr Herz sich eine Zeitlang ausgeruht hatte, fühlte er wieder den Drang nach Beschäftigung in sich erwachen, auch quälte ihn das Bewusstsein, nur auf die Mildtätigkeit seiner Schwester angewiesen zu sein. Die Stelle eines Turnlehrers am städtischen Gymnasium war frei. Er bewarb sich um dieselbe und erhielt sie. Daneben erbot er sich, jährlich, von Weihnacht bis zu den Fasten, den heranwachsenden Herren und Damen des Städtchens Tanzunterricht zu erteilen.
Das einträchtige Beisammenleben mochte einige Jahre gedauert haben, als Fräulein Ina eines Morgens ihrem Bruder melden ließ, er möge beim Frühstück nicht auf sie zählen, da sie, eines leichten Unwohlseins wegen, länger im Bett bleiben wolle. Aber auch um die Mittagsstunde, als er aus dem Gymnasium heimkehrte, fand er seine Schwester nicht im Wohnzimmer. Er eilte in ihre Schlafkammer. Da lag sie bleich und regungslos auf ihrem Bett. Die kleine Rosa saß auf dem Estrich daneben und spielte mit der herabhängenden Hand ihrer Tante. Fräulein Ina war tot.
Dieser Verlust musste den armen Herrn Herz auf das Empfindlichste treffen. Nicht nur die Liebe zu der treuen Schwester weinte in seinem Herzen; neben dieser tapfern und kräftigen Genossin hatte er sich entwöhnt, für sich und sein Kind zu sorgen. Wie eine wohltätige Vorsehung hatte Fräulein Ina um ihn gewaltet und ihm jede Aufregung eines Entschlusses erspart. Jetzt, dieser Stütze beraubt, fühlte er sich hilflos und verwaist.
Auf die Trauerbotschaft eilten viele Nachbarn herbei und staunten den alten Mann an, der wie ein Kind weinte, liebevoll den Arm der Toten streichelte und immer wiederholte: »Schwester, was fange ich nun an? – Und die Rosa? – Schwester, dass du das tatest!«
Herr Klappekahl bemerkte zu diesem Auftritt: »So einer von der Bühne hat doch mehr Sentiment und Aplomb als jeder andere Christenmensch.«
Agnes Stockmaier, die alte Dienerin, hüllte ihre Herrin in das schwarzseidene Abendmahlkleid, setzte ihr die schwarze Spitzenhaube auf und legte ihr ein Kruzifix in die bleichen Hände. So trug man Fräulein Ina zum Friedhof hinaus. Der Pfarrer Raser hielt am Grabe eine erbauliche Rede, in der er die Verdienste der Dahingeschiedenen nicht genug zu preisen wusste und ihr reichen Himmelslohn verhieß. Die zahlreich erschienenen Freunde drückten die Taschentücher an die Augen und sprachen halblaut miteinander: »Also ganz plötzlich?« – »Ja, ein sanfter Tod!« – »Gott sei gelobt!« – Dann blinzelte der eine oder der andere zur hellen Märzsonne auf und meinte gefühlvoll: »Sie hat ein wahres Gotteswetter für ihre letzte Reise.« СКАЧАТЬ