Название: Gesammelte Werke
Автор: Фридрих Вильгельм Ðицше
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815295
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Turiner Brief vom Mai 1888.
Ridendo dicere severum…
1.
Ich hörte gestern – werden Sie es glauben? – zum zwanzigsten Male Bizet’s Meisterstück. Ich harrte wieder mit einer sanften Andacht aus, ich lief wieder nicht davon. Dieser Sieg über meine Ungeduld überrascht mich. Wie ein solches Werk vervollkommnet! Man wird selbst dabei zum "Meisterstück". – Und wirklich schien ich mir jedes Mal, dass ich Carmen hörte, mehr Philosoph, ein besserer Philosoph, als ich sonst mir scheine: so langmüthig geworden, so glücklich, so indisch, so sesshaft … Fünf Stunden Sitzen: erste Etappe der Heiligkeit! – Darf ich sagen, dass Bizet’s Orchesterklang fast der einzige ist, den ich noch aushalte? Jener andere Orchesterklang, der jetzt obenauf ist, der Wagnerische, brutal, künstlich und "unschuldig" zugleich und damit zu den drei Sinnen der modernen Seele auf Einmal redend, – wie nachtheilig ist mir dieser Wagnerische Orchesterklang! Ich heisse ihn Scirocco. Ein verdriesslicher Schweiss bricht an mir aus. Mit meinem guten Wetter ist es vorbei.
Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. "Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen": erster Satz meiner Aesthetik. Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch: sie bleibt dabei populär – sie hat das Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur "unendlichen Melodie". Hat man je schmerzhaftere tragische Accente auf der Bühne gehört? Und wie werden dieselben erreicht! Ohne Grimasse! Ohne Falschmünzerei! Ohne die Lüge des grossen Stils! – Endlich: diese Musik nimmt den Zuhörer als intelligent, selbst als Musiker, – sie ist auch damit das Gegenstück zu Wagner, der, was immer sonst, jedenfalls das unhöflichste Genie der Welt war (Wagner nimmt uns gleichsam als ob – –, er sagt Ein Ding so oft, bis man verzweifelt, – bis man’s glaubt).
Und nochmals: ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein besserer Musikant, ein besserer Zuhörer. Kann man überhaupt noch besser zuhören? – Ich vergrabe meine Ohren noch unter diese Musik, ich höre deren Ursache. Es scheint mir, dass ich ihre Entstehung erlebe – ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagniss begleiten, ich bin entzückt über Glücksfälle, an denen Bizet unschuldig ist. – Und seltsam! im Grunde denke ich nicht daran, oder weiss es nicht, wie sehr ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen mir während dem durch den Kopf … Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht? dem Gedanken Flügel giebt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? – Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. – Ich definirte eben das philosophische Pathos. – Und unversehens fallen mir Antworten in den Schooss, ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von gelösten Problemen … Wo bin ich? – Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was gut ist. –
2.
Auch dies Werk erlöst; nicht Wagner allein ist ein "Erlöser". Mit ihm nimmt man Abschied vom feuchten Norden, von allem Wasserdampf des Wagnerischen Ideals. Schon die Handlung erlöst davon. Sie hat von Mérimée noch die Logik in der Passion, die kürzeste Linie, die harte Nothwendigkeit; sie hat vor Allem, was zur heissen Zone gehört, die Trockenheit der Luft, die limpidezza in der Luft, Hier ist in jedem Betracht das Klima verändert. Hier redet eine andre Sinnlichkeit, eine andre Sensibilität, eine andre Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängniss über sich, ihr Glück ist kurz, Plötzlich, ohne Pardon. Ich beneide Bizet darum, dass er den Muth zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europa’s bisher noch keine Sprache hatte, – zu dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität … Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohlthun! Wir blicken dabei hinaus: sahen wir je das Meer glätter? – Und wie uns der maurische Tanz beruhigend zuredet! Wie in seiner lasciven Schwermuth selbst unsre Unersättlichkeit einmal Sattheit lernt! – Endlich die Liebe, die in die Natur zurückübersetzte Liebe! Nicht die Liebe einer "höheren Jungfrau"! Keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, cynisch, unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist! – Ich weiss keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde, wie im letzten Schrei Don José’s, mit dem das Werk schliesst:
"Ja! Ich habe sie getödtet,
ich – meine angebetete Carmen!"
– Eine solche Auffassung der Liebe (die einzige, die des Philosophen würdig ist –) ist selten: sie hebt ein Kunstwerk unter Tausenden heraus. Denn im Durchschnitt machen es die Künstler wie alle Welt, sogar schlimmer – sie missverstehen die Liebe. Auch Wagner hat sie missverstanden. Sie glauben in ihr selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil eines andren Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vortheil. Aber dafür wollen sie jenes andre Wesen besitzen … Sogar Gott macht hier keine Ausnahme. Er ist ferne davon zu denken "was geht dich’s an, wenn ich dich liebe?" – er wird schrecklich, wenn man ihn nicht wieder liebt. L’amour – mit diesem Spruch behält man unter Göttern und Menschen Recht – est de tous les sentiments le plus égoïste, et, par conséquent, lorsqu’il est blessé, le moins généreux. (B. Constant.)
3.
Sie sehen bereits, wie sehr mich diese Musik verbessert? – Il faut méditerraniser la musique: ich habe Gründe zu dieser Formel (jenseits von Gut und Böse, S. 220). Die Rückkehr zur Natur, Gesundheit, Heiterkeit, Jugend, Tugend! – Und doch war ich Einer der corruptesten Wagnerianer … Ich war im Stande, Wagnern ernst zu nehmen … Ah dieser alte Zauberer! was hat er uns Alles vorgemacht! Das Erste, was seine Kunst uns anbietet, ist ein Vergrösserungsglas: man sieht hinein, man traut seinen Augen nicht – Alles wird gross, selbst Wagner wird gross … Was für eine kluge Klapperschlange! Das ganze Leben hat sie uns von "Hingebung", von "Treue", von "Reinheit" vorgeklappert, СКАЧАТЬ