Название: Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор: Reinhard Mehring
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935771
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Das war um 1800 Novalis’ Hoffnung. Schmitt hätte dem zwar grundsätzlich zugestimmt; selbst 1942 zitierte er zum Weltkriegsgeschehen noch Hölderlin: „Auch hier sind Götter und walten, / Groß ist ihr Maß.“ (LM 107; SGN 210) Schmitt verband das 1942, anders als 1933, aber nicht mehr mit dem Reichsmythos, den Novalis im Ofterdingen mit der Kyffhäusersaga zitierte. Literarisch antwortete Novalis mit dem Ofterdingen vor allem auf Goethe; er poetisierte die Romanform über den Wilhelm Meister hinaus, indem er sie ins philosophische Märchen verwandelte; Novalis vertrat die – von Benjamin92 pointierte – romantische Auffassung, dass ein Kunstwerk sich erst wirkungsgeschichtlich durch die Kunstkritik optimiert. In diesem Sinne notierte er: „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein.“93 Als „wahrer Leser“ transformierte Novalis das Evangelium der „Ökonomie“, das er Wilhelm Meisters Lehrjahren entnahm, unter dem Eindruck der 1795 publizierten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und des dort abschließenden Märchens.
Die Literatur weist für den Ofterdingen oft auf Goethes „Märchen“ hin. Dabei ist der Zusammenhang mit den Unterhaltungen zu beachten. Goethe formulierte mitten in den Revolutionsexodus von 1795 hinein Diskursregeln eines zivilen Umgangs mit Flüchtlingsschicksalen: Die gastgebende Baronesse dekretierte ihren Gästen als Umgangsregel für die „gesittete Bildung“94 das Gebot der „geselligen Schonung“: „Lasst uns dahin übereinkommen, dass wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen!“95 Die Unterhaltungen dokumentieren eine fortschreitende Entpolitisierung der exemplarischen Geschichten in Richtung auf die allegorische und symbolische Übersetzung. Dieser Zug zur Entpolitisierung und Allegorisierung zeigt sich auch im Ofterdingen. Dort meint Heinrich eingangs zu den unterhaltsamen Kaufleuten:
„Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich sähe zwei Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine, mühsam und unabsehbar, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast Ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung.“96
Man sollte die Romangestalt nicht einfach mit Novalis identifizieren und Heinrich auf den „Weg der inneren Betrachtung“ festlegen. Er wandert ja durch die Welt und poetisiert vor allem seine erotische Erfahrung. Auch Novalis war kein Einsiedler und Klosterbruder. Als Dichter beschwor er aber die Liebe als vereinigende Kraft. Politisch proklamierte er ein Friedensreich, auch wenn sein „Europa“ im Ofterdingen vom Kreuzzug gegen das „Morgenland“ und der Rückeroberung des „heiligen Grabes“ lebt. Die Ritter singen: „Wir waschen bald in frohem Mute / Das Heilige Grab mit Heidenblute.“97 Klingsohr erklärt Heinrich: „Der wahre Krieg ist der Religionskrieg“.98 Diese Thematisierung von Ritterschaft und Krieg war auch eine Stellungnahme zu den Revolutionskriegen nach 1789. Das Romanfragment endet aber mit Ausführungen des Sylvester zur Souveränität des Gewissens:
„Alle Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freiheit nennen kann, ohnerachtet damit nicht ein bloßer Begriff, sondern der schaffende Grund alles Daseins bezeichnet werden soll. Diese Freiheit ist Meisterschaft. Der Meister übt freie Gewalt nach Absicht und in bestimmter und überdachter Folge aus. Die Gegenstände seiner Kunst sind sein, und stehn in seinem Belieben und er wird von ihnen nicht gefesselt oder gehemmt. Und gerade diese allumfassende Freiheit, Meisterschaft oder Herrschaft ist das Wesen, der Trieb des Gewissens.“99 „Das Gewissen ist der Menschen eigenstes Wesen in voller Verklärung, der himmlische Urmensch.“100
Schiller hatte im Gespräch mit Goethe über den Wilhelm Meister – so im Brief vom 8. Juli 1796 – bereits moniert, die „Idee der Meisterschaft“ sei in den Lehrjahren noch nicht ganz klar. Novalis revidiert Goethes Roman aus seiner religiösen Auffassung von der Souveränität des Gewissens heraus. Dieser starke Gewissensbegriff, für den Novalis auch von „Geist“ und „Gemüt“ spricht, ließe sich theologisch im freikirchlichen Protestantismus und mystischen Traditionen verorten; politisch hätte ihn Schmitt als anarchistisches Denken abgelehnt. Novalis träumte von Selbstherrschaft, charismatischer Herrschaft der reinen Gewissen, von einem Staat ohne die Befugnis, im Modus der Legalität „zu zwingen“.
Auch Schmitt waren solche anarchistische Träume nicht ganz fremd. Er kritisierte die bürokratische Herrschaft des formalen Rechts, Entfremdung von Legalität und Legitimität, und argumentierte für eine Suspension der Legalität im charismatischen Führerstaat; er konstatierte eine Kluft zwischen einem „bürgerlichen Rechtsstaat“ und der „unmittelbaren Gerechtigkeit“ des charismatischen Führers und brauchte Jahre, um den Führerstaat als Leviathan zu erkennen. Zweifellos hätte er aber in den 1920er Jahren schon Novalis entgegnen können: ‚Deine chiliastischen Träume vom „neuen“ und „dritten Reich“ kenne ich! Alle anarchistischen Utopien von der Herrschaftsfreiheit und freien Moral führen in die „Erziehungsdiktatur“. Das zeigt die bolschewistische Sowjetunion! Das war bereits eine Erfahrung der Französischen Revolution!‘
Novalis hat das nicht so gesehen. Sein „Weg der innern Betrachtung“ changiert zwischen entpolitisierender Ausflucht und anarchistischer Idealisierung und Moralisierung der Politik. Novalis betrachtete das als religiöse Utopie. Um der Zukunft willen idealisierte er die bestehende Monarchie. Wahrscheinlich war ihm die Staatsformenfrage sekundär. Gewiss war er kein dogmatischer Anhänger der dynastischen Legitimität, sondern band seinen Monarchismus an idealisierte Voraussetzungen. Was er verfassungspolitisch vor allem forderte, war die republikanische Gesinnung. Wie sehr seine Überlegungen damals auf verlorenem Posten standen, zeigt schon sein vor dem Ofterdingen entstandenes Fragment über Die Christenheit oder Europa, das erst 1826 vollständig publiziert wurde. Eine Wiederkehr des katholischen Mittelalters war damals ebenso unmöglich wie das tausendjährige Reich einer theokratischen „Regierung Gottes auf Erden“.101 Schmitt konnte diese Schrift nur als Märchen betrachten. Mit den damaligen Entscheidungsfragen hatte sie nichts gemein. Gerade löste sich das alte Reich auf und die letzten geistlichen Fürstentümer wurden säkularisiert. Die Trennung von Staat und Religion wurde vollzogen.
Novalis antwortete mit seinen Träumereien auf die Zeit um 1798: die Lage nach den Koalitionskriegen, den Verträgen von Basel und Campoformio, in denen Preußen und Österreich sich mit Frankreich arrangierten, sowie den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. Das ist für Schmitts Interesse, oder vielmehr: Desinteresse wichtig. Schmitt unterschied verfassungspolitisch zwischen der Lage nach 1789 oder 1798 und der Jahre 1806 oder 1815: der preußischen Erhebung und der Antwort des Wiener Kongresses und der Restaurationsepoche. Er dachte die deutsche Verfassungsgeschichte von den Resultaten von 1815 her. Als Aufbruchzeit interessierte ihn der Vormärz weitaus mehr als die Lage um 1800. Eine komplexe Beschreibung der verfassungspolitischen Lage in Deutschland nach 1789 hat er nirgendwo publiziert. Erst im Spätwerk erörterte er die Lage nach 1806 und der preußischen Erhebung von 1812 eingehender. Das frühromantische Interim oder Interregnum ignorierte er verfassungspolitisch.
Will man verstehen, weshalb er die Romantik von der Restauration nach 1815 her dachte und ablehnte, so sehe ich zwei Ansatzpunkte: Es wurde gesagt, dass Novalis den Staat als eine Nation oder Republik imaginierte, die über ein ideales Königspaar integriert wurde. Einen solchen konstitutionellen Vorrang der Nation vor dem Staat gab es für Schmitt, der primär etatistisch dachte, aber nicht. Die nationalistische Mobilisierung Preußens gegen Napoleon beschäftigte ihn erst im Spätwerk. Wenn Schmitt der Romantik von 1798 einen idealistischen Überschuss zubilligte, so lag dieser weniger im Nationalismus als in der Reichsidee. Der wichtigste Text, den er dazu schrieb, ist seine Kölner Antrittsrede vom Sommer 1933 über Reich – Staat – Bund. Dazu gibt es eine interessante Vortragsfassung vom 22. Februar 1933, vor den Märzwahlen und dem Ermächtigungsgesetz, mit dem erst Hitler, nach Schmitts СКАЧАТЬ