Название: Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор: Reinhard Mehring
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935771
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Die Mauthner-Miszelle ist ein Gelegenheitswerk. Intensiver beschäftigte sich Schmitt damals mit Vaihinger. Wenn er seine Vaihinger-Rezension in der Deutschen Juristen-Zeitung mit dem Titel „Juristische Fiktionen“139 überschrieb, ist der Rezeptionsgesichtspunkt bezeichnet, weshalb er Vaihinger gleichsam als pragmatische Antwort auf Mauthner las. Schmitt interessierte sich für den Fiktionalismus als praktische Philosophie und Ansatz zu einer pragmatischen, handlungsorientierten Auffassung der Sprache. Der Jurist setzt die praktische Bedeutung sprachlicher Fiktionen als Normen voraus. Die Tragweite von Vaihingers Fiktionalismus prüft Schmitt damals gleich in mehreren kleinen Texten und parodiert Mauthner dann in seiner Jugendsatire Schattenrisse als rechthaberischen Vielschreiber.140 Satirisch ergänzt er Mauthners Wörterbuch um einen Eintrag „Schmarrn“ und karikiert den Argumentationsstil so: „Denken ist Sprechen, Sprechen ist Muskelbewegung, Muskelbewegung ist Anstrengung, Aristoteles ist unangenehm, unangenehm ist Aristoteles, folglich ist Denken Schmarrn.“ (TB 1912/15, 343)
Schmitt charakterisiert Mauthner durch einen „jüdischen Witz“. Er greift Mauthners Rede vom „Witz“ der Sprache auf und ersetzt die „Sprache“ durch den Verweis auf das Judentum; er persifliert Mauthner als Juden, in einem satirischen Buch, das er zusammen mit seinem jüdischen Jugendfreund Fritz Eisler pseudonym schreibt. Im Wert des Staates verweist er in einer Fußnote auf Mauthner, wenn er Lichtenbergs „es denkt in mir“ gegen Mauthner als „Ausdruck der überindividuellen Gültigkeit jeder richtigen Norm“ rechtfertigt. Schmitt trennt in Rezension und Satire zwischen der anregenden Wirkung von Mauthners Wörterbuch und der problematischen Philosophie insgesamt. Die Destruktion der Sprache als Verständigungsmittel findet er als Jurist absurd; er teilt aber Mauthners Anliegen, durch die Sprache hindurch zu einer präreflexiven Mystik zu finden. Damals war Schmitt bereits mit dem expressionistischen Dichter Däubler befreundet. In seinem 1916 erschienenen Buch Theodor Däublers ‚Nordlicht‘ spricht er dem Dichter das Verdienst zu, die Sprache vom „Naturalismus“ der Verständigung emanzipiert zu haben. Schmitt attestiert Däubler „die Umschaffung der Sprache zu einem rein künstlerischen Mittel“ und eine „absolute Musik der Sprache“.141 Die „Transzendenz“ des „Geistes“ betrachtet er als eine Wendung vom „Utilitaristimus“ der „Mittel“ zum ursprünglichen oder religiösen „Zweck“.
Schmitt bejahte die expressionistische Emanzipation der poetischen Sprache vom alltäglichen Verständigungsmittel und löste seine Stellung zwischen Kaserne und Bohème, Alltag und Mystik in einen Dualismus der Perspektiven auf. Schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterschied er im Wert des Staates zwischen „Zeiten des Mittels und Zeiten der Unmittelbarkeit“ (WdS 197). Als doppelte Optik von Normal- und Ausnahmezustand hielt er an dieser Unterscheidung im Gesamtwerk fest. Oft wurde er einseitig in das Lager der Unmittelbarkeit und des apokalyptischen Ausnahmezustands gestellt. Der Jurist kann aber eigentlich nur ein „Advokat der Mittelbarkeit“ (WdS 108) sein. Schmitt war zwar der Meinung, dass die politische Theorie im 20. Jahrhundert von der „irrationalistischen“ Willensbildung der Massen ausgehen und die Medien politischer Kommunikation darauf ausrichten muss. Er wünschte als Jurist aber den „Aufschub“ und die rechts- und verfassungsstaatliche Formierung eines Normalzustands. Dem apokalyptischen „Einbruch“ des Ausnahmezustands konnte er aber in seiner doppelten Optik und expressionistischen Prägung einen postkonventionellen religiösen und mystischen Sinn abgewinnen. Mauthner gehörte dabei zu den Autoren, die ihm früh einige Stichworte gaben.
4. Schmitts Sicht des Anarchismus
Mauthner erlebte Kriegsende und Rätediktatur nicht in München, sondern zurückgezogen in Meersburg am Bodensee. Für Landauer und Schmitt wurde die Münchner Revolution dagegen in sehr unterschiedlicher Weise zum Schicksal. Für Landauer endete der Ernstfall revolutionärer Bewährung seiner radikalsozialistischen Utopie tödlich. Seine Beteiligung an der Revolution war höchst unglücklich und keineswegs zwingend. Von Anfang an stand er als Anarchist zwischen den Lagern. Für Schmitt wurde die Revolution zur prägenden Grenzerfahrung der Fragilität des Rechtsstaats, zum verfassungsgeschichtlichen Fanal der Extension des Exekutivstaates und Beweis für die Notwendigkeit einer extensiven Auslegung des Staatsnotrechts. Den Anarchismus unterschied er dabei klar vom organisierten Sozialismus und Marxismus.
Schmitts wichtigste Äußerungen zum Anarchismus finden sich innerhalb der Politischen Theologie im Kapitel Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution, dann in der Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus und im Katholizismus-Essay. In der Politischen Theologie beschreibt er 1922 eine Entwicklung der Gegenrevolution „von der Legitimität zur Diktatur“ und positioniert sich in der Linie der „Gegenrevolution“ als Antwort auf die anarchistische Linie. Schmitt schreibt: „Alle anarchistischen Lehren, von Babeuf bis Bakunin, Kropotkin und Otto Groß, drehen sich um das Axiom le peuple est bon et le magistrat corruptible.“ (PT 71) Er meint auch:
„Der marxistische Sozialismus hält die Frage nach der Natur des Menschen deshalb für nebensächlich und überflüssig, weil er glaubt, mit den ökonomischen und sozialen Bedingungen auch den Menschen zu ändern. Dagegen ist für die bewußt atheistischen Anarchisten der Mensch entschieden gut und alles Böse die Folge theologischen Denkens und seiner Derivate, zu denen alle Vorstellungen von Autorität, Staat und Obrigkeit gehören.“ (PT 72f)
„Erst Bakunin gibt dem Kampf gegen die Theologie die ganze Konsequenz eines absoluten Naturalismus. […] Wenn heute Anarchisten in der auf väterlicher Gewalt und Monogamie beruhenden Familie den eigentlichen Naturzustand sehen und die Rückkehr zum Matriarchat, dem angeblich paradiesischen Urzustande, predigen, so äußert sich darin ein stärkeres Bewußtsein der tiefsten Zusammenhänge als in jenem Lachen von Proudhon.“ (PT 81f)
Donoso Cortés erblickte in Proudhon seinen Feind. Während Landauer Proudhon und Kropotkin gegenüber Bakunin bevorzugte, sieht Schmitt Bakunin als konsequentesten Vertreter an.142 Er spricht von einem Gegensatz von „Autorität und Anarchie“ СКАЧАТЬ