Carl Schmitts Gegenrevolution. Reinhard Mehring
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Название: Carl Schmitts Gegenrevolution

Автор: Reinhard Mehring

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

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isbn: 9783863935771

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СКАЧАТЬ des relativ gut funktionierenden medizinischen Systems weniger betroffen als andere Nachbarstaaten. Die medizinische Kenntnis der Grippe war damals noch sehr unvollkommen. Erst 1933 wurde das Influenzavirus entdeckt. Kriegsentscheidend war die Spanische Grippe nicht, die schwere zweite Herbstwelle erreichte Deutschland zudem erst nach der Kapitulation.

      Michels betont, dass gerade die Militärverwaltung über die Entwicklung der Pandemie gut informiert war und mit den Befunden strategisch umging. Die Grippe wurde in ihren Folgen nicht überschätzt, obgleich die jüngeren Jahrgänge, anders als 2020, weit stärker als die älteren betroffen waren. Die Presse wurde zensiert und nur sehr wenige behördliche Eindämmungsmaßnahmen wurden beschlossen, um die Moral der Bevölkerung nicht weiter zu schwächen. So wurde die Gastronomie nicht geschlossen, obgleich die Krankenhäuser überfüllt waren und nicht alle Patienten betreut werden konnten. Wirksame Medizin gab es nicht. Michels schreibt:

      „Die Berichte der Stimmung in der Bevölkerung der drei stellvertretenden bayerischen Generalkommandos im Herbst 1918 jedenfalls erwähnen nur einmal die Grippe: ‚Der Abfall Bulgariens, der Zerfall der Donaumonarchie, der Rücktritt Ludendorffs, die Preisgabe der nordfranzösischen Städte an der flandrischen Küste, die Bargeldknappheit und die Ernährungsschwierigkeiten, sowie die Furcht vor einer feindlichen Invasion haben bei der Bevölkerung großen Schrecken und große Sorge ausgelöst; das Auftreten der Spanischen Grippe mit zahlreichen Todesfällen mehrt die Ängstigung.‘“72

      Der Bericht stammt aus dem II. bayerischen Armeekorps. Schmitt war damals im I. Generalkommando tätig, dort auch für die Presseüberwachung und ähnliche Aufgaben zuständig. Die Spanische Grippe flaute nach 1918 langsam ab. Es gab eine dritte Welle im Frühjahr 1919, danach folgten noch „Trailerwellen eines sich erst langsam abschwächenden Virus“.73 Michels spricht insgesamt von einer „Exzessmortalität von etwa 320 000 bis 350 000 Personen“74 und einer Ansteckungsquote von „etwa 20 bis 25 Prozent“ allein 1918. Schmitt thematisierte den pandemischen Ausnahmezustand in seinen Schriften nicht, obgleich er dem Problem vor und nach 1918 in München begegnete. Medizinisch war das Virus aber noch nicht identifiziert. Irrtümlich wurde es deshalb auch mit der Mangelernährung bei Kriegsende verbunden. Auch deshalb erschien es nicht prioritär. Als Verwaltungsjurist im Generalkommando hatte Schmitt damals spezifische Einsichten in die Virus-Politik. Die Spanische Grippe wurde medizinisch, militärisch und strategisch aber nicht priorisiert. Als die Weimarer Verfassung im Sommer 1919 dann in Kraft trat, war die Grippewelle bereits abgeklungen.

       2. Jenaer Auslegung der „kommissarischen Diktatur“

      Schmitt begann erst 1924 mit der näheren verfassungsrechtlichen Analyse des Art. 48 WRV, ohne die Spanische Grippe oder die Hyperinflation von 1923 eigens zu erwähnen. Seine erste positivrechtliche Analyse präsentierte er 1924 auf der 2. Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Jena. Schmitt war kurzfristig eingesprungen. Sein Jenaer Referat geht nur mit wenigen verfassungsgeschichtlichen Bemerkungen auf die Vorgeschichte des Art. 48 ein. Schmitt geht von einem Widerspruch zwischen der „üblichen Auslegung“ und der neueren Praxis aus und versucht die Verfassungskonformität der Praxis durch eine buchstäbliche Auslegung des Textes zu erweisen, die Satz 1 Art. 48 Abs. 2 von Satz 2 entkoppelt:

      „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ (Art. 48 Abs. 2WRV)

      Die gängige Praxis suspendierte nicht nur einzelne Grundrechte, meint Schmitt, sondern führte auch zu einer „Machtkonzentration“ bei der Exekutive, die durch die „übliche Auslegung“ nicht gedeckt sei. Schmitt unterscheidet die beiden Sätze des Art. 48 Abs. 2 nach ihrer historischen und systematischen Bedeutung und entkoppelt das Maßnahmehandeln des Reichspräsidenten so von der Einschränkung auf einzelne Grundrechte. Das Wissen um den historischen und systematischen Bedeutungsunterschied der beiden Sätze findet Schmitt durch die Entstehungsgeschichte des Textes von 1919 bestätigt. Als Zwischenergebnis formuliert er:

      „Der Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 ergibt also, daß der Reichspräsident eine allgemeine Befugnis hat, alle nötigen Maßnahmen zu treffen, und eine besondere Befugnis, gewisse aufgezählte Grundrechte außer Kraft zu setzen.“ (D 229)

      Diesen Befund spitzte Schmitt schon 1921 kritisch zu. Dort heißt es:

      „Es ist sinnlos, den Reichspräsidenten, der Städte mit giftigen Gasen belegen, Todesstrafen androhen und durch außerordentliche Kommissionen aussprechen darf, außerdem noch eigens darüber zu vergewissern, daß er z.B. den Behörden Zeitungsverbote freigeben kann. Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Pressfreiheit explicite erteilt.“ (D 203)

      Für diesen Befund, einen Widersinn zwischen Satz 1 und 2 von Art 48 Abs. 2 WRV, entwickelt Schmitt 1924 nun eine doppelte Lösung: Einerseits fordert er die schnelle Ergänzung des „Provisoriums“ durch ein „Ausführungsgesetz“, das die Gesetzeslücke schließt; das wird er auch in späteren Texten75 immer wieder fordern; andererseits limitiert er eine missbräuchliche Extension der Maßnahmekompetenz als „Staatsnotrecht“ durch eine systematische Erörterung der „Grenzen“ des Maßnahmebegriffs. Schmitt schreibt hier:

      „Die Eigenart der Maßnahme aber besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. Die Maßnahme ist also ihrem Begriffe nach durchaus beherrscht von der clausula rebus sic stantibus. Ihr Maß, d.h. Inhalt, Verfahren und Wirkung bestimmen sich von Fall zu Fall nach Lage der Sache.“ (D 248)

      Schmitt sucht also rechtsstaatliche Grenzen des Maßnahmehandelns aus dem Begriff der Maßnahme selbst zu gewinnen. Er unterscheidet die Maßnahmen für den Einzelfall dabei vom allgemeinen Geltungsanspruch des Gesetzes. 1924 schreibt er noch: „Der Reichspräsident ist kein Gesetzgeber.“ (D 250) Seine Verfassungslehre wird 1928 dann ausführen, dass der „rechtsstaatliche Gesetzesbegriff“ mit dem Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes die rechtsstaatliche Gewaltenunterscheidung trägt. Die Legislative ist für allgemeine Gesetze zuständig, die Exekutive für Maßnahmehandeln. Schmitt wird in den folgenden Jahren detailliert analysieren, dass die exekutivstaatlichen Tendenzen die klare Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme unterlaufen und die weitere Entwicklung des Rechtsetzungsprozesses zu einer Paralyse der Form des Gesetzesbegriffs führte. Schmitt zeigt das nach 1933 mit einigen Artikeln und Aufsätzen auch für die nationalsozialistische Paralyse des Gesetzgebungsprozesses und führt es in seiner Schrift Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft dann im weiten Bogen aus. 1924 suchte er Grenzen des Maßnahmehandelns im Begriff der Maßnahme selbst auf und betonte das Kriterium der Zweckmäßigkeit „von Fall zu Fall nach Lage der Sache“. In seiner frühen Studie Diktatur und Belagerungszustand meinte er 1917 dazu schon sehr grundsätzlich:

      „Beim Belagerungszustand tritt unter Aufrechterhaltung der Trennung von Gesetzgebung und Vollzug eine Konzentration innerhalb der Exekutive ein; bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Vollzug hat“ (SGN 17). „Die rechtliche Behandlung des rein tatsächlichen Zustandes einer konkreten Gefahr erfolgt also in der Weise, daß vom Recht ein rechtsfreier Raum abgesteckt wird, innerhalb dessen der Militärbefehlshaber jedes ihm geeignet erscheinende Mittel anwenden darf. […] Innerhalb des Raumes tritt sozusagen eine Rückkehr zum Urzustand ein, der Militärbefehlshaber bestätigt sich darin wie der verwaltende Staat vor der Trennung der Gewalten: er trifft konkrete Maßnahmen als Mittel zu einem konkreten Zweck, ohne durch gesetzliche Schranken behindert zu werden. […] Insoweit besteht die Teilung der Gewalten nicht mehr: innerhalb des dem Militärbefehlshaber überlassenen Spielraums СКАЧАТЬ