Название: Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор: Reinhard Mehring
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935771
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„Wo nun, wie in der kommunistischen Literatur, nicht nur die bekämpfte politische Ordnung, sondern auch die erstrebte eigene politische Herrschaft Diktatur heißt, tritt eine weitere Veränderung im Wesen des Begriffs ein. Der eigene Staat heißt in seiner Gesamtheit Diktatur, weil er das Werkzeug eines durch ihn zu bewirkenden Übergangs zu einem richtigen Zustand bedeutet, seine Rechtfertigung aber in einer Norm liegt, die nicht mehr bloß politisch oder gar positiv-verfassungsrechtlich ist, sondern geschichtsphilosophisch. Dadurch ist die Diktatur – weil sie als Ausnahme in funktioneller Abhängigkeit von dem bleibt, was sie negiert – ebenfalls eine geschichtsphilosophische Kategorie geworden.“ (D XV)
Schmitt spricht für die „Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur“ auch von einem „Übergang von der früheren ‚Reformations-‘ zur Revolutions-Diktatur“ (D XVIII). Gelegentlich meinte er später, die Weimar Verfassung sei 1919 bereits „posthum“, eigentlich von 1848 gewesen. Wenn er den zeitgenössischen Bolschewismus 1921 mit den Jakobinern von 1793 parallelisiert, spricht er ein geschichtsphilosophisches Urteil: Schmitt zeigt zwar, dass die fundamentale Voraussetzung der „Einheit“ des Staates, auf der die Diktatur des Reichspräsidenten basierte, von der Theorie des proletarischen Klassenkampfes negiert wurde; er scheint die proletarische Revolution aber 1921 nicht mehr wirklich zu fürchten. In der Vorbemerkung beruft er sich dagegen zustimmend auf Bruno Bauer und Ostrogorski, unausgesprochen wohl auch auf Max Weber, wenn er konstatiert:
„Stets aber ist nach dem neueren Sprachgebrauch eine Aufhebung der Demokratie auf demokratischer Grundlage für die Diktatur charakteristisch, so daß zwischen Diktatur und Caesarismus meistens kein Unterschied mehr besteht und eine wesentliche Bestimmung, nämlich das, was […] als der kommissarische Charakter der Diktatur entwickelt ist, entfällt.“ (D XIII)
9. Gegenrevolutionäre Bejahung der „konstitutionellen Demokratie“
Damit sind Schmitts früheste Stellungnahmen zum Umbruch von 1918/19 einigermaßen geklärt. Es ließen sich spätere anschließen. Ein kleiner Artikel Reichspräsident und Weimarer Verfassung liest sich im März 1925 wie eine zusammenfassende Warnung vor der „großen Machtfülle“ des Reichspräsidenten: „Man kann sagen, daß keine Verfassung der Erde einen Staatsstreich so leicht legalisiert, wie die Weimarer Verfassung.“ (SGN 25) Ignorieren wir die späteren Schriften und beschränken uns auf die ersten Antworten der Monographien von 1919 und 1921, so ist abschließend zu sagen: Von einer umfassenden verfassungspolitischen Antwort auf den Systemumbruch kann damals noch keine Rede sein. Schmitt schweigt von Versailles und Genf; zur Weimarer Verfassung äußert er sich aber bereits dezidiert, auf die Souveränitätsfrage von Diktatur und Ausnahmezustand bezogen. Als Jurist meidet er direkte Stellungnahmen und versteckt sie „esoterisch“ hinter indirekten Spiegelungen. Deshalb sind Exkurse zu David Friedrich Strauss und Wallenstein68 innerhalb der beiden Monographien auch eine konfessionelle Botschaft: Schmitt grenzt sich von Strauss’ romantisierender Auffassung der Religionspolitik des antichristlichen Kaisers Julian ab und betrachtet Wallenstein als kommissarischen Diktator und „Aktionskommissar“ im Dienste kaiserlicher Reichseinungspolitik: „Allerdings verschafften die militärischen Erfolge Wallensteins dem Kaiser eine solche Macht, dass es einen Augenblick scheinen konnte, als bestünde die Möglichkeit, das Deutsche Reich zu einem nationalen Einheitsstaat unter einem absoluten Fürsten zu machen.“ (D 86) Kontrafaktisch deutet Schmitt hier eine versäumte historische Chance an, die 1848 erneut verfehlt worden sei.
Schmitt macht 1921 also das Telos des Einheitsstaats explizit, um die Risiken einer diktatorischen Wendung gegen die Reichseinheit aufzuzeigen. Von einer Apologie des Reichspräsidenten scheint er aber noch weit entfernt zu sein; eher warnt er vor den Gefahren eines Übergangs zur souveränen Diktatur des Reichspräsidenten. Seine Stoßrichtung richtet sich mehr gegen den „proletarischen Klassenkampf“. Hier liegt eine thematische Verknüpfung der beiden Monographien Politische Romantik und Die Diktatur: Während die Politische Romantik die Akteure im historischen Spiegel moralisch wie politisch zu diskreditieren scheint, zielt Die Diktatur auf den grundsätzlichen Wandel. Schmitt betont, dass sein Interesse „sich nicht erst an den gegenwärtigen Diskussionen über Diktatur, Gewalt oder Terror entzündet hat“ (D XIX), und er verweist auf frühere Schriften. Rechtsphilosophisch fragt er nach der „Rechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, dass sie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen“ (XVI); die Diktatur zeige die „Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung“. Schmitt sucht einen Zugang zu einem weiten Rechtsbegriff und will das Recht vom „Problem der konkreten Ausnahme“ (D XVII) her fassen. Daran schließt die Souveränitätslehre der Politischen Theologie an. Schmitt stellt sich dort in die Reihen der „Theorie der Gegenrevolution“ und beantwortet ein Jahr später, mit der Parlamentarismus-Schrift, die „Diktatur im marxistischen Denken“ dann mit einer Berufung auf Mussolini und den „nationalen“ oder nationalistischen Mythos. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Diktatur schließt er 1927 dann erneut mit einem Verweis auf Mussolini und der Rede vom „autoritären Staat“.
Damit ist einigermaßen geklärt, mit welchen Erwartungen Schmitt die Weimarer Entscheidung für die „konstitutionelle Demokratie“ gegen die Rätediktatur begrüßte: Mit der Diktatur des Reichspräsidenten fand er die Antwort des „Caesarismus“. Seine Grundentscheidung war damals bereits antibolschewistisch und gegenrevolutionär. Der Wille zur Reichseinheit und die Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“ stehen am Anfang seiner Weimarer Verfassungslehre.
III. Die Spanische Grippe und die Lehre von der „kommissarischen Diktatur“
1. Die Spanische Grippe in München
Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs war für Schmitts Sicht der Verfassungsgeschichte und Neigung zur exekutivstaatlichen Diktatur prägend. Huber stellte die Entwicklung detailliert dar. Unter Berufung auf Schmitt betonte er die „epochale Bedeutung des Kriegs-Ermächtigungsgesetzes“ vom 4. August 1914 als „Verfassungsereignis von epochemachendem Rang“ und „Ende des Zeitalters des ‚gewaltenteilenden Konstitutionalismus‘“69 und führte im Einzelnen aus, welche Grundrechte im „einfachen“ und „verschärften“ Kriegszustand ausgesetzt werden durften. Schutzhaft und Aufenthaltsbeschränkungen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und eine weitreichende Presse- und Briefzensur wurden zulässig. Die Kriegsverfassung organisierte die „Kriegswirtschaft“: die Ernährungsverwaltung, Rüstungswirtschaft, Energie- und Rohstoffwirtschaft und viele andere Aspekte im bis dahin ungeahnten Ausmaß. Von spezifischen hygienepolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Spanischen Grippe spricht Huber in seiner detaillierten Darstellung nicht. Die „zweite Welle“ der Herbstepidemie 1918 fiel mit dem Kriegsende, dem Sturz des Wilhelminismus und dem Übergang zur Verfassungsrevolution zusammen, so dass damals statt weitergehender Beschränkungen vielmehr ein „Abbau des Kriegszustands“70 erfolgte. Am 12. November 1918 wurde der seit Kriegsbeginn herrschende „Belagerungszustand“ förmlich aufgehoben.
Schmitt erlebte Krieg und Kriegsende, Revolution, Reichsexekution und Gegenrevolution in München. Die Spanische Grippe erörterte er in seinem Werk nirgends. Eckard Michels71 hat ihre Ausbreitung gut dargestellt und dabei auch militärische Quellen berücksichtigt. Die Grippe kam im März 1918 vermutlich über französische Kriegsgefangene nach Deutschland, bildeten die Kriegsfronten doch gewissermaßen Quarantänegrenzen. In bayerischen Heeren hatte der Juli 1918 den höchsten Krankenstand mit etwa 10 %. Es gab eine Diskrepanz zwischen der internen militärischen Einschätzung und der öffentlichen Kommunikation der Grippe durch die Presse: Für die strategischen Planungen des Militärs spielte die Grippe niemals eine entscheidende Bedeutung; sie wurde medizinisch eher für gering erachtet, СКАЧАТЬ