Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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Popper arbeitet mit einer lerntheoretischen Analogisierung von Wissenschaft und Politik. In beiden Bereichen findet soziales Lernen statt. Beide Bereiche jedoch bleiben unter ihren Möglichkeiten, weil soziale Lernprozesse blockiert sind. Popper führt dies auf eine in beiden Bereichen verfehlte Fragestellung zurück, und er macht es sich zur Aufgabe, durch eine kategorial veränderte Fragestellung beiden Bereichen eine den sozialen Lernprozessen förderliche(re) Orientierung vorzugeben.
Für den Bereich Wissenschaft argumentiert Popper mit einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation. Gestützt auf diese Asymmetrie, propagiert er einen Perspektivwechsel weg vom Fundament vermeintlich sicheren Wissens hin zum dynamischen Prozess hypothetischer, fallibler Wissensfortschritte. Metaphorisch ausgedrückt, können beim Baum der Erkenntnis die Wurzeln ruhig im Dunkeln bleiben; von entscheidender Bedeutung sind die Früchte und von daher das Wachstum des Baumes.
Für den Bereich der Politik argumentiert Popper mit einer Asymmetrie zwischen Freude und Leid, zwischen der Verwirklichung von Glück und der Vermeidung von Unglück. Gestützt auf diese Asymmetrie, propagiert er einen Perspektivwechsel weg von abstrakter, utopischer Politik hin zu einer Bekämpfung konkreter Missstände. Ihm kommt es darauf an, dass Politik als ein Prozess aufgefasst wird, in dem kontinuierlich versucht wird, Irrtümer schrittweise zu revidieren. Hierfür ist eine Rückkopplung politischer Maßnahmen an die Bedürfnisse der Bürger erforderlich, wie sie in der von Popper befürworteten friedlichen Abwahlmöglichkeit der Regierung beschlossen liegt.
Poppers Auffassung zufolge lautet die dem Bereich der Wissenschaft angemessene Frage nicht: ‚Wer hat sicheres Wissen?‘, sondern: ‚Wie kann unser (stets unsicheres) Wissen vermehrt werden?‘. Analog lautet, Poppers Auffassung zufolge, die dem Bereich der Politik angemessene Frage nicht: ‚Wer soll herrschen?‘, sondern: ‚Wie können wir mit den (unvermeidlichen) Fehlern politischer Herrschaft möglichst vernünftig umgehen?‘. Das Gemeinsame dieser beiden Perspektivwechsel besteht in einer anti-autoritär gewendeten Lerntheorie, in einem kritischen Rationalismus, demzufolge weder nach autoritativen Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis noch nach autoritativen Quellen politischer Herrschaft zu fragen ist.[174] An die Stelle dieser Fragen, die für Fehlorientierungen verantwortlich gemacht werden, wird die Maxime gesetzt, aus Fehlern zu lernen. |116|Für die Wissenschaft bedeutet dies, hypothetische Deduktionen so vorzunehmen, dass die Logik als Organon der Kritik eingesetzt werden kann. Für die Politik bedeutet es, soziale Reformen als kontrollierte Experimente schrittweise vorzunehmen und ihre Erfolgskontrolle durch eine Rückkopplung per Wahlabstimmung sicherzustellen.
(2) Poppers Arbeiten zu Wissenschaft und Politik sind Anwendungen des kritischen Rationalismus. Sofern der kritische Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens ein Defizit aufweist, muss sich dieses Defizit – bei systematischer Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes – in beiden Bereichen niederschlagen. Weisen die Arbeiten zu Wissenschaft und Politik strukturanaloge Schwächen auf, so kann man von diesen Schwächen folglich auf ein Defizit der kritisch-rationalen Hintergrundkonzeption zurückschließen. Es ist also gerade Poppers Stärke, seine Systematizität, von der eine kritische Rezeption seines Werkes Gebrauch machen kann.
Bei der Suche nach strukturanalogen Schwächen in Poppers Werk fällt auf, dass weder seine Arbeiten zur Wissenschaft noch seine Arbeiten zur Politik ohne Appelle auskommen. Popper arbeitet mit Appellen zur Wahrheit und mit Appellen zur Freiheit. Seiner Auffassung zufolge soll sich die Wissenschaft auf die Suche nach Wahrheit begeben, und die politische Suche nach einer besseren Welt soll sich am Wert individueller Freiheit orientieren.[175]
Nun markieren Appelle aber stets einen Abbruch – wenn nicht der Diskussion, so doch – der Argumentation. Metaphorisch ausgedrückt, antworten sie auf berechtigte Fragen des Diskussionspartners nicht mit einem Argument, sondern mit einem Ausrufezeichen. Sie geben nicht Auskunft, sie geben Anweisung. Appelle indizieren einen Mangel an Diskursivität und sind insofern ein Ausdruck von – je nachdem – Verweigerung oder auch nur Verlegenheit auf der einen Seite und als solcher zugleich eine Zumutung für die andere Seite. Auf diese Weise untergraben Appelle die Rationalität der Diskussion.[176]
Im Hintergrundkonzept des kritischen Rationalismus hat Popper diesem Sachverhalt offensichtlich keinen systematischen Stellenwert eingeräumt. Will man dies ändern, so muss man die Kernbotschaft des kritischen Rationalismus reformulieren. Dass wir aus Fehlern lernen, ist zwar richtig, jedoch zu unspezifisch, |117|wenn man das Potential einer Theorie sozialen Lernens voll ausschöpfen will. Das gleiche gilt auch noch für die Aussage, dass wir aus Kritik lernen. Die sozialen Voraussetzungen argumentationsgestützter Lernprozesse werden hier nicht stark genug betont. Als These zugespitzt: Für einen reformulierten kritischen Rationalismus entfaltet sich Rationalität durch Diskursivität, durch einen Diskussionsprozess, der als Wettbewerb um das bessere Argument organisiert ist und gerade dadurch eine diskursive Überbietungsrationalität freisetzt. Argumentationsgestützte Lernprozesse beruhen auf ‚konstruktiver‘ Kritik. Dies setzt eine gemeinsame Basis voraus, die u.U. allererst geschaffen werden muss und die schaffen zu helfen eine wichtige Aufgabe theoretischer Orientierungsleistungen darstellt.
Vor diesem Hintergrund stellen sich nun zwei Fragen, auf die im Folgenden eine Antwort zu geben versucht wird: Inwiefern handelt es sich bei dieser Reformulierung um eine konstruktive Kritik Poppers; inwiefern ist sie mit seinem Werk zu vereinbaren? Und inwiefern handelt es sich um eine konstruktive Kritik Poppers; welche Veränderungen zieht die Revision des Hintergrundkonzepts nach sich?
(3) In bezug auf die erste Frage ist auf zwei Sachverhalte aufmerksam zu machen. Erstens hat Popper zwischen 1934 und 1944 sein Abgrenzungskriterium weiterentwickelt. Das ursprüngliche Kriterium, die Falsifizierbarkeit, erscheint ihm seitdem als ein Spezialfall des allgemeineren Abgrenzungskriteriums der Kritisierbarkeit.[177] Demzufolge unterscheidet sich echte Wissenschaft von bloßer Pseudo-Wissenschaft nicht unbedingt dadurch, dass ihre Aussagen empirisch getestet werden können. Vielmehr reicht es bereits aus, dass ihre Aussagen systematisch verbessert werden können. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass Lernfortschritte nicht unbedingt durch eine Konfrontation von Theorie und Realität zustande kommen müssen, sondern auch durch eine Konfrontation alternativer Theorien erzielt werden können. Faktisch kommt dies einer diskursiven Wende des kritischen Rationalismus gleich.[178] Diese Wende wird lediglich konsequent zu Ende gedacht, wenn man sich den von Popper selbst initiierten Kriterienwechsel von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit zu eigen macht und dann darauf aufbauend das diskursive Prinzip konstruktiver Kritik als Leitidee einer reformulierten Theorie sozialen Lernens ausweist. In dieser Hinsicht kann also recht weitgehend Kontinuität zu Popper reklamiert werden.[179]
|118|Zweitens geht es Popper in seinen Anwendungen des kritischen Rationalismus nicht nur um Kritik, sondern dezidiert um konstruktive Kritik. In seinen Arbeiten zur Wissenschaft und zur Politik bemüht er sich – zwar nicht in allen Details, wohl aber vom Grundsatz her – um die Generierung von Zweckmäßigkeitsargumenten.[180] Insbesondere seine Versuche, die jeweilige Fragestellung zu ändern, können als ein sicheres Indiz für diskursives Problembewusstsein gewertet werden: Popper versucht, Denkblockaden aufzubrechen, indem er die zugrunde liegenden Denkkategorien als verfehlt kritisiert. Popper setzt hier deutlich auf konstruktive Kritik. Er versucht, seine Gegner mit besseren Argumenten diskursiv zu überbieten. Diese diskursive Ausrichtung seiner Wissenschaftstheorie wird in folgendem Zitat besonders deutlich:
„Nach der hier vertretenen Auffassung können also die ‚erkenntnistheoretischen Probleme‘ in zwei Gruppen eingeteilt werden: Die erste Gruppe enthält die methodologischen Fragen; die zweite Gruppe die spekulativ-philosophischen, die in den meisten Fällen als Missdeutungen der methodologischen Fragen dargestellt werden können. … Wenn diese Auffassung berechtigt ist, so erweist sich die Fruchtbarkeit der erkenntnistheoretischen Methode und einer glücklichen erkenntnistheoretischen Fragestellung darin, dass es gelingt, den Fragen der zweiten Gruppe solche der ersten Gruppe zu substituieren; anders ausgedrückt: die erkenntnistheoretischen Missdeutungen nicht einfach СКАЧАТЬ