Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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Die heutige Problemsituation in den Wirtschaftswissenschaften
(2) Zieht man vor dem Hintergrund dieser Konkurrenz Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften zu Rate, so folgt eine eindeutige Stellungnahme zugunsten der ersten Variante, die der von Popper befürworteten Methode einer Situationslogik entspricht, während gegenüber der zweiten und dritten Variante gravierende Vorbehalte geltend gemacht werden können. Gegen die zweite Variante spricht Poppers Utopie-Kritik, gegen die dritte sein methodologischer Anti-Psychologismus.
Die Wohlfahrtstheorie arbeitet mit dem Idealbild eines gesellschaftlichen Pareto-Optimums, eines Zustandes, in dem nicht weiter gelernt werden kann, weil bereits alle Optionen bestmöglich ausgeschöpft sind. Politische Maßnahmen werden dann von diesem Referenzmodell her entworfen. Das Denken nimmt seinen Ausgangspunkt in einer Utopie, nicht jedoch im Status quo. Es entsteht eine utopische Lücke, die nur schwer zu überbrücken ist, was sich in entsprechenden Implementationsschwierigkeiten niederschlägt. Insofern ist es kein Zufall, dass sich, wie allgemein bekannt, wohlfahrtstheoretische Vorschläge in der politischen Praxis nur äußerst schwer umsetzen lassen. – Popper würde hier mit der |126|Asymmetrie zwischen Freude und Leid argumentieren. Er würde folgern, dass es generell zweckmäßiger sei, sich an konkreten Missständen anstatt an einer abstrakten Utopie zu orientieren. Dies würde bedeuten, schrittweise Verbesserungen anzustreben. Wollte man Poppers Utopie-Kritik Rechnung tragen, so müsste man – in der Sprache der Wohlfahrtstheorie ausgedrückt – das Ergebniskriterium gesellschaftlicher Pareto-Optimalität ersetzen durch das Verfahrenskriterium gesellschaftlicher Pareto-Superiorität. Dies aber käme einem Wechsel von Variante 2 zu Variante 1 gleich, wie insbesondere die Arbeiten James Buchanans zeigen, dessen Forschungsprogramm einer ‚konstitutionellen Ökonomik‘ genau diesen Wechsel propagiert.[188]
Die Verhaltenstheorie versucht, die Sozialwissenschaften und insbesondere die Wirtschaftswissenschaften von der Psychologie her zu entwickeln. Die Erforschung individueller Lernprozesse soll die Grundlage für die Erforschung gesellschaftlicher Lernprozesse bilden. Das Forschungsprogramm wird im Schema ‚Teil-Ganzes‘ gedacht: Die Gesellschaft ist das Ganze, die Individuen sind die Teile, die sozialen Elemente. Das Ganze gilt hier als die Summe seiner Teile. Folglich, so das Argument, muss man zunächst einmal über die Individuen (möglichst genau) Bescheid wissen, bevor man die Gesellschaft verstehen kann, also z.B. in Laborexperimenten erforschen, wie Menschen wirklich denken und welche Fehler sie hierbei machen. – Popper würde hierauf antworten, dass sich das plausibel anhört, dass aber die Plausibilität ein schlechter Ratgeber in solchen Fragen ist. Um für gedankliche Klarheit zu sorgen, würde Popper auf die Metapher des Scheinwerfers zurückgreifen: Theorien sind Scheinwerfer. Sie bringen Licht ins Dunkel, erhellen Sachverhalte. Das, was uns interessiert, können wir mit Theorien beleuchten. Wenn wir etwas über die Gesellschaft erfahren wollen, dann müssen wir den Scheinwerfer auf die Gesellschaft richten. Wenn wir ihn hingegen auf uns selbst richten, d.h. auf die Individuen, dann werden wir geblendet und können gar nicht erkennen, was uns eigentlich interessiert.
Popper würde versuchen, mit Hilfe dieser Metapher folgendes Zurechnungsproblem zu erläutern: Wenn wir etwas über die Anreizwirkung gesellschaftlicher Institutionen in Erfahrung bringen wollen, dann müssen wir mit einer Theorie arbeiten. Eine solche Theorie hat mindestens zwei Bestandteile. Erstens arbeitet sie mit einem Situationsmodell: einer skizzenhaften Beschreibung der situativen Anreize, die durch das institutionelle Arrangement gesetzt werden, und zweitens arbeitet sie mit einer Annahme darüber, wie Individuen auf Anreize reagieren. Weiter würde Popper argumentieren, dass theoretisches Lernen auf Fehlerelimination angewiesen ist und dass eine solche Fehlerelimination prinzipiell an beiden Theoriebestandteilen ansetzen kann. Allerdings würde er darauf hinweisen, dass es gute Gründe gibt, an der getroffenen Annahme festzuhalten und statt dessen ausschließlich das Situationsmodell zu variieren, d.h. sämtliche theoretischen Lernprozesse auf den ersten Theoriebestandteil zu konzentrieren. Wer die Frage stellt, ob Individuen sich rational verhalten, lernt möglicherweise etwas über Individuen, aber er lernt nichts über die situativen Anreizeigenschaften gesellschaftlicher Institutionen.
|127|Insofern ist es kein Zufall, dass der in den letzten Jahrzehnten erzielte Erkenntnisfortschritt innerhalb der Ökonomik darin bestanden hat, den formalen Opportunitätskostenbegriff inhaltlich immer besser zu spezifizieren. Institutionen kanalisieren individuelles Handeln, indem sie auf die situativen Zeitkosten, Informationskosten und Transaktionskosten einwirken. Dieser Erkenntniszuwachs über die institutionellen Beeinflussungsmöglichkeiten individueller Handlungsspielräume verdankt sich jedoch nicht der dritten Variante, sondern der ersten Variante, die das Rationalitätsprinzip: die Annahme optimalen Individualverhaltens, für ein leistungsfähiges Zurechnungsverfahren in Dienst nimmt. Dies zeigt sich vor allem in den Arbeiten Gary Beckers, dessen Forschungsprogramm eines ‚ökonomischen Imperialismus‘ genau dieses kostenorientierte Zurechnungsverfahren propagiert.[189]
(3) Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften liefert eine eindrucksvolle Begründung für die situationslogische Vorgehensweise der ersten Variante, des i.e.S. ökonomischen Ansatzes, und insbesondere für die Verwendung des Rationalitätsprinzips innerhalb der ökonomischen Situationslogik. Popper hat die Annahme situationsadäquaten Verhaltens in vielen Beiträgen verteidigt. Die konziseste Darstellung freilich findet sich in einem Aufsatz mit dem Titel „Das Rationalitätsprinzip“[190]. Dieser Aufsatz macht deutlich, wo die Stärke seiner Verteidigung des Rationalitätsprinzips liegt: Sie liegt in einer lerntheoretischen Argumentation, in einer Argumentation, die neben dem individuellen und gesellschaftlichen Lernprozess noch einen dritten Lernprozess ins Spiel bringt, nämlich den Lernprozess sozialwissenschaftlicher Theorien, für den sich das Rationalitätsprinzip als funktional erweist. Der Aufsatz lässt aber auch eine Schwäche erkennen: Während Popper das Rationalitätsprinzip einerseits für schlechthin unverzichtbar hält, stuft er es andererseits zugleich als „einfach falsch“[191] ein. Sein lerntheoretisches Argument zugunsten des Rationalitätsprinzips liest sich im Original so: „Wir lernen nicht viel, wenn wir lernen, dass dieses Prinzip, streng genommen, nicht wahr ist: das wissen wir schon. Zudem ist es, trotz der Tatsache, dass es falsch ist, der Wahrheit in der Regel hinreichend nahe“[192]. Popper argumentiert hier mit einer angeblichen Realitätsnähe der Rationalitätsannahme. Dies ist geradezu eine Einladung, die Gültigkeit dieser Annahme empirisch zu überprüfen, d.h. eine Einladung zum methodologischen Psychologismus. Wie lassen sich solche Missverständnisse vermeiden? Gibt es eine Alternative zu Poppers angestrengtem Versuch, ein falsches Prinzip als unverzichtbar zu rechtfertigen? Kann man das Rationalitätsprinzip vielleicht besser verteidigen? Gibt es durchschlagendere Argumente? Zur Beantwortung dieser Fragen seien folgende Überlegungen zur Diskussion gestellt.
Das Rationalitätsprinzip impliziert nicht, dass Individuen keine Fehler machen. Es impliziert lediglich, dass sie versuchen, aus ihren Fehlern zu lernen. Genaugenommen drückt es nämlich die Annahme aus, dass die Individuen in der konkret untersuchten Situation aus ihren Fehlern schon gelernt haben. Unterstellt |128|wird, dass das Potential individueller Lernprozesse angesichts einer gegebenen Anreizkonstellation bereits vollständig ausgeschöpft ist. Diese Annahme enthält zweifellos eine Übertreibung. Wie aber lässt sich eine solche СКАЧАТЬ