Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies
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Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

Автор: Ingo Pies

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная деловая литература

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isbn: 9783846345757

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СКАЧАТЬ – für Popper: sokratische – Wendung, die die Vorstellung sicheren Wissens durch die Vorstellung eines stets unsicheren Vemutungswissens ersetzt.

      Im Bereich des Vermutungswissens – und für Popper ist alles Wissen Vermutungswissen – gibt es keine sichere Basis, keine verlässliche Grundlage; wohl aber gibt es Erkenntnisfortschritt. Lernprozesse sind möglich. Enttäuschte Erwartungen können korrigiert werden. Eine erste Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen aus Fehlern. Versuch und Irrtum sind die zentralen Bestandteile methodischen Erkenntnisfortschritts. Eine zweite Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen im Modus der Kritik. Es ist dem Erkenntnisfortschritt förderlich, von anderen auf Fehler hingewiesen zu werden, die man selbst nicht gesehen hat. Folglich können Lernprozesse durch kritische Diskussionen wesentlich befördert werden. Diese zweite Botschaft verwandelt die kritisch-rationale Lerntheorie in eine Theorie sozialen Lernens. Als These formuliert: Poppers kritischem Rationalismus zufolge entfaltet sich Rationalität durch Kritik, durch einen sozialen, inter-personellen Lernprozess kritischer Diskussion.

      Im Folgenden wird zu zeigen versucht, dass sich Poppers Schriften zur Wissenschaftstheorie im allgemeinen, zur Methodologie der Sozialwissenschaften im besonderen, seine politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie und darüber hinaus auch sein Entwurf objektiver Erkenntnis als Anwendungen des kritischen Rationalismus interpretieren lassen, d.h. als Anwendungen einer Theorie sozialen Lernens.

      (1) Die Anwendung des kritischen Rationalismus auf das Problem wissenschaftlicher Erkenntnis führt zu einer radikalen Änderung der erkenntnistheoretischen Fragestellung. Es geht nicht länger um das Subjekt, sondern um das Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht um Erkenntnisfindung, sondern um Erkenntnisgeltung, d.h. um die (vorläufige) Gültigkeit wissenschaftlicher |109|Erkenntnisse, also um das Resultat wissenschaftlicher Diskussionen, in denen versucht wird, theoretische Vermutungen zu widerlegen. Poppers kritisch-rationale Wissenschaftstheorie setzt an die Stelle einer zu seiner Zeit weit verbreiteten Erkenntnispsychologie eine „Logik der Forschung“, eine „Lehre von der deduktiven Methodik der Nachprüfung“[157]. In der Tat ist Poppers Wissenschaftstheorie eine Lehre von der deduktiven, d.h. logisch gestützten, Methode inter-subjektiver Nachprüfung und gerade darin eine Anwendung der kritisch-rationalen Theorie sozialen Lernens.

      (2) Poppers ‚Logik der Forschung‘ zufolge sind wissenschaftliche Diskussionen eine extreme Spezialform kritischer Diskussionen, ein institutionen- und traditionengestützter Sonderfall, der es dem gesunden Menschenverstand ermöglicht, eine extreme Leistungsfähigkeit zu erreichen. Demnach ist Wissenschaft nicht nur durch das Genie einzelner Forscher und ihre kühnen Vermutungen, sondern auch durch die Widerlegungsversuche der Forschergemeinschaft gekennzeichnet. Eine solche Arbeitsteilung ist auf geeignete Anreize angewiesen. Folglich kann die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Fehlanreize behindert werden. Störungen dieses Produktionsprozesses treten vor allem dann ein, wenn sich die Spezialisierung und Zusammenarbeit der Wissenschaftler an einer verfehlten Methodologie orientiert. In dieser Hinsicht hält Popper nicht so sehr die Naturwissenschaften als vielmehr die Sozialwissenschaften für besonders störanfällig. Sie haben, so Popper, ihren Galilei bis heute nicht gefunden, d.h. sie verfügen (noch?) nicht über eine hinreichend robuste Erkenntnistradition.[158] Auf diese Problemsituation reagieren Versuche, die naturwissenschaftliche Erkenntnistradition in den Sozialwissenschaften zu kopieren. Diese Versuche sind umstritten, und zu diesem Streit nimmt Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften Stellung.

      In seinem Buch über das „Elend des Historizismus“[159] – das Elend einer Auffassung, die die Sozialwissenschaften auf historische Voraussagen festlegen will –, unterscheidet Popper zwei historizistische Varianten. Die eine nennt er pro-, die andere anti-naturalistisch. Erstere befürwortet „die Anwendung physikalischer Methoden in den Sozialwissenschaften“[160], letztere lehnt eine solche Anwendung ab. Popper wirft beiden Varianten im Prinzip denselben Fehler vor: nämlich ein grundlegendes Missverständnis der physikalischen Methode.

      Hinsichtlich der anti-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass sie zu holistischen Sozialexperimenten neige, bei denen das gesellschaftliche Ganze aufs Spiel gesetzt wird, und dass sie mithin die Bedeutung kontrollierter Experimente in der Physik verkenne. In Anlehnung an solche kontrollierten Experimente formuliert Popper den Gegenentwurf einer „Stückwerks-Sozialtechnologie“, derzufolge institutionelle Reformen inkrementalistisch, Schritt für Schritt zu erfolgen haben, weil sich nur so das Zurechnungsproblem lösen lässt, welche Institutionen für welche Missstände überhaupt verantwortlich sind. Popper macht geltend, dass sein Konzept über eine überlegene |110|Lernfähigkeit verfüge. Es ist also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, das für inkrementalistische und gegen holistische Reformversuche spricht. Popper (1944–45, 1987; S. 70): „[E]s ist sehr schwer, aus sehr großen Fehlern zu lernen.“

      Hinsichtlich der pro-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass die Annahme historischer Entwicklungsgesetze auf einem Missverständnis der Verwendung von Naturgesetzen in der Physik beruhe. Die logische Struktur wissenschaftlicher Erklärungen und Prognosen werde grundlegend verkannt, mit der Folge, dass der sozialwissenschaftliche Erkenntisfortschritt nachhaltig behindert werde. Wiederum ist es ein letztlich lerntheoretisches Argument, dessen sich Popper hier bedient. Dieses Argument lässt sich in drei Schritten rekonstruieren, die in eine vernichtende Kritik des Pro-Naturalismus münden.

      Der erste Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des (natur-) wissenschaftlichen Erklärungskonzepts: Erklärung heißt, ein Explikandum aus einem Explikans herzuleiten. Das Explikandum besteht aus Sätzen, die einen empirischen Sachverhalt beschreiben. Das Explikans hingegen besteht aus zwei Arten von Prämissen. Zum einen handelt es sich um universale Sätze, zum anderen um singuläre Sätze. Die universalen Sätze formulieren hypothetische Naturgesetze, d.h. sie beanspruchen allgemeine Gültigkeit. Die singulären Sätze jedoch beziehen sich auf den jeweiligen Einzelfall; sie spezifizieren die konkreten Bedingungen und beanspruchen als Hypothesen daher lediglich situative Gültigkeit. Eine Erklärung besteht nun in dem Versuch, den beschriebenen Sachverhalt aus singulären und universalen Sätzen folgen zu lassen.

      Im zweiten Schritt erfolgt eine aussagenlogische Erläuterung des wissenschaftlichen Prognosekonzepts. Während eine Erklärung bei einem bereits vorliegenden Explikandum ansetzt und dieses auf ein allererst zu entwickelndes Explikans zurückführt, geht eine wissenschaftliche, d.h. bedingte Prognose genau anders herum vor. Sie setzt beim Explikans an und schließt auf ein Explikandum, d.h. auf einen Sachverhalt, der erst in der Zukunft eintreten wird. Wissenschaftliche Erklärungen und Prognosen weisen eine gleichartige aussagenlogische Struktur auf; ihre Argumentationsrichtung ist jedoch diametral entgegengesetzt.

      Der dritte Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des wissenschaftlichen Fortschrittskonzepts: Fortschritt heißt, Erklärungen und Prognosen zu verbessern, d.h. aus Fehlern zu lernen. Scheitert die deduktive Verknüpfung von Explikans und Explikandum, so kann dies unter bestimmten Umständen – nämlich dann, wenn die situative Gültigkeit der singulären Sätze ebenso wie die Beschreibung des Explikandums vergleichsweise unproblematisch ist – als eine Prüfung des universalen Satzes aufgefasst werden und als erfolgreiche Anwendung des ‚modus tollens‘ einen Anstoß zu theoretischen Weiterentwicklungen geben, d.h. zu Verbesserungen der universalen Sätze.

      In diesen drei gedanklichen Schritten wird die Aussagenlogik als Darstellungsmittel einer – nicht aussagenlogischen, sondern – methodologischen Argumentation verwendet. Diese Argumentation mündet in Poppers Kritik, dass die in der pro-naturalistischen Historizismusvariante verwendeten Gesetzesaussagen nicht universale, sondern singuläre Sätze sind, die sich auf historische Einzelereignisse oder Folgen solcher Einzelereignisse beziehen, z.B. auf das historische ‚Gesetz‘ |111|einer Stufenfolge gesellschaftlicher Entwicklungsstadien. Dieses durch eine Äquivokation des Gesetzesbegriffs – wenn nicht hervorgerufene, so doch – verstärkte Selbstmissverständnis der eigenen Methode sei vor allem deshalb so bedeutsam, СКАЧАТЬ