Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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(3) Poppers zweibändiges Buch über die „offene Gesellschaft“[162] ist ein Zwillingsprodukt seines Buches über den Historizismus. Beide sind nahezu zeitgleich entstanden. An ihnen wurde simultan gearbeitet. In seiner methodologischen Studie geht es Popper um den pseudo-wissenschaftlichen Charakter des Historizismus. In seiner Streitschrift für die offene Gesellschaft geht es ihm um die politischen Konsequenzen historizistischer Denkfehler. Hier wird die wissenschaftstheoretische Kritik des Historizismus durch eine gesellschaftspolitische Kritik ergänzt. Auch diese Ergänzung steht ganz im Zeichen des kritischen Rationalismus, d.h. einer Theorie sozialen Lernens.
Popper reagiert auf die totalitären Politikentwicklungen seiner Zeit mit einer Interpretation, die es ihm erlaubt, als Philosoph – d.h. als Methodologe: als Spezialist für Methodenreflexion – gegen den Totalitarismus dezidiert Stellung zu beziehen. Er interpretiert den Totalitarismus als eine Begleiterscheinung der Zivilisation, als (untauglichen) Versuch, sich der „Last der Zivilisation“[163] zu entledigen. Popper unterstellt dem Totalitarismus hehre Motive. Er sieht in ihm einen Ausdruck des politischen Willens, das Los der Mitmenschen zu verbessern – genauer: einen Ausdruck extremer Fehler, die einer durchaus wohlmeinenden Politik unterlaufen können. In diesem Sinne interpretiert Popper die Ergebnisse totalitärer Politik als nicht-intendierte Folgen intentionaler – soziale Verbesserungen intendierender – Handlungen. Für Popper besteht der Kardinalfehler totalitärer Politik darin, gesellschaftliche Lernprozesse abzuwürgen, durch zentrale Planung zum Stillstand zu bringen. Deshalb zielt sein demokratischer Gegenentwurf darauf ab, gesellschaftliche Lernprozesse institutionell zu unterstützen. Popper geht es um das Verfahren – d.h. die Methode – sozialer Reformen, und hier vertritt er die Auffassung, dass „die Demokratie – und sie allein – einen institutionellen Rahmen darstellt, innerhalb dessen eine Reform ohne Gewaltanwendung |112|und damit die Anwendung der Vernunft auf die Fragen der Politik möglich ist“[164]. Insofern ist Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft – genauer: für die demokratische Verfassung der offenen Gesellschaft – zugleich ein Plädoyer für gesellschaftliches Lernen, für sozialen Fortschritt durch Kritik, insbesondere durch kritische Diskussion, ein Plädoyer für soziale Verbesserungen durch schrittweise Reformen.
(4) Poppers Aufsatzsammlung mit dem Titel „Objektive Erkenntnis“[165] liegt – so der Untertitel – ein „evolutionärer Entwurf“ zugrunde. Dieser Entwurf mündet in die sog. ‚Drei-Welten-Theorie‘ und lässt sich in drei Schritten rekonstruieren.
Erstens bedient sich Popper zur Darstellung seiner Lerntheorie eines formalen Schemas[166] (Abb. 3). Demnach nimmt Lernen seinen Ausgang von Problemen (P1). Diese Probleme werden zu lösen versucht. Es entstehen alternative Lösungsvorschläge (VL1, …, n). Die Verbesserung dieser Lösungsvorschläge erfolgt durch Fehlerelimination (FE) und mündet in neue Problemstellungen auf höherem Niveau (P2).
Poppers Lernschema
Zweitens interpretiert Popper dieses Lernschema als Evolutionsschema, d.h. er verlängert seine Lerntheorie, den kritischen Rationalismus, bis in die Biologie hinein. Die beiden mittleren Elemente des Schemas repräsentieren Mutation und Selektion. Popper betont, dass auch die biologische Evolution als aktiver Lernprozess aufgefasst werden kann: „Alles Leben ist Problemlösen“[167]. Diese Auffassung kulminiert in der Aussage, dass die Amöbe und Einstein letztlich die gleiche Lernmethode verwenden, nämlich die kritisch-rationale Methode von Versuch und Irrtum, des Lernens aus Fehlern.[168]
Drittens kann vor diesem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit die Frage neu gestellt werden, wodurch sich biologische und kulturelle Evolution unterscheiden. Poppers Antwort sieht den Unterschied im jeweiligen Selektionsobjekt: |113|Bei der Fehlerelimination im Rahmen kultureller Evolution sterben Ideen, nicht Menschen. Diese Antwort mündet unmittelbar in die begriffliche Trennung dreier unterschiedlicher Welten – Welt 1: Gegenstände und Organismen; Welt 2: subjektive Bewusstseinszustände; Welt 3: objektive Gedankeninhalte – und in zahlreiche theoretische Folgerungen dieser kategorialen Unterscheidung.[169]
Auf zwei dieser Folgerungen sei hier hingewiesen. Erstens kann Popper mit Hilfe der Drei-Welten-Unterscheidung seine erkenntnistheoretische Fragestellung präzisieren. Die vorpopperianische Erkenntnistheorie – so seine Selbsteinschätzung – war mit der Frage beschäftigt, wie sicheres Wissen möglich sei, und suchte demzufolge nach Objektivierungsmöglichkeiten subjektiven Wissens, z.B. mit Hilfe von Induktion. Auf diese Weise wurde der gesamte Komplex der Wissenschaft (fälschlicherweise) der Welt 2 zugeordnet, als Bereich gesicherten subjektiven Wissens. In dieser jahrhunderte-alten Tradition stehend, war die zeitgenössische Wissenschaftstheorie auf Welt 2 fokussiert, sie folgte einer primär erkenntnispsychologischen Orientierung. Für Popper liegt hier ein Kategorienfehler zugrunde, denn aus seiner Sicht ist die Wissenschaft nicht der Welt 2, sondern der Welt 3 zuzuordnen. ‚Biologisch‘ betrachtet, sind Theorien, Probleme, gelungene und gescheiterte Lösungsversuche, aber auch Heuristiken als exosomatische Produkte des Lebewesen ‚Mensch‘ ebenso real und ebenso autonom wie die exosomatischen Produkte anderer Lebewesen, z.B. „Spinnweben oder Wespennester, Ameisennester, Dachsbaue, Biberdämme oder Wildwechsel im Wald“[170]. Die Erforschung der objektiven Eigenschaften dieser – mit sprachlichen Mitteln – künstlich geschaffenen Welt 3 erklärt Popper zur Aufgabe seiner Erkenntnistheorie. Es geht ihm um die Produkte, nicht um die Produzenten, und in diesem Sinne gibt er als Motto aus: „Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt“[171]. Zweitens bleibt Popper nicht bei einer bloßen Unterscheidung der drei Welten stehen, sondern untersucht ihr Zusammenspiel im Evolutionsprozess. Dies führt ihn zu weiteren anti-psychologischen Folgerungen. So vertritt er etwa die These, dass das allgemeine Problem des Verstehens – angefangen von der Wissenschaftsgeschichte über die Sozialwissenschaften bis hin zur geisteswissenschaftlichen |114|Hermeneutik – als Problem falsch gestellt wird, wenn man es in Welt 2 und nicht in Welt 3 ansiedelt, wohingegen das Verstehen gefördert werde, indem man psycho-logisches Nachempfinden durch situations-logische Analysen ersetzt, die nicht den subjektiven Bewusstseinsprozessen der zu verstehenden Handlungen nachgehen, sondern ihre objektive Problemsituation zu rekonstruieren versuchen.[172]
Poppers Werk im Überblick
(5) Abb. 4 vermittelt einen Überblick über die bisher entwickelte Lesart. Poppers Werk ist inspiriert von zwei Ereignissen, die in die Formulierung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie münden. Für diese Grundprobleme präsentiert Popper eine einheitliche Lösung: den kritischen Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens. Poppers Wissenschaftstheorie ist eine Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes, ebenso wie seine Methodologie der Sozialwissenschaften und sein Plädoyer für die demokratische Verfassung einer offenen Gesellschaft. Selbst seine Evolutionstheorie erweist sich im Kern als eine bis in die Biologie hinein verlängerte Lerntheorie.[173]
|115|5. Eine konstruktive Kritik des kritischen Rationalismus
(1) Bevor auf die Schwächen in Poppers Werk eingegangen wird, sei zunächst noch einmal eine besondere Stärke betont: die Systematizität, mit der Popper СКАЧАТЬ