Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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Aber auch Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft folgt einer diskursiven Ausrichtung. Um dies zu erkennen, muss man sich nur die Problemsituation vergegenwärtigen, die er zu bearbeiten versucht. Darauf anspielend, dass Hitler 1933 legal an die Macht gekommen ist, heißt es bei Popper (1945, 1992a; S. 148):
„Was tun wir, wenn es der Wille des Volkes ist, nicht selbst zu regieren, sondern statt dessen einen Tyrannen regieren zu lassen? … Diese Möglichkeit ist nicht an den Haaren herbeigezogen; Fälle dieser Art sind oft genug eingetreten. Und immer, wenn sie sich ereigneten, kamen alle jene Demokraten in eine hoffnungslose intellektuelle Situation, die das Prinzip der Herrschaft der Mehrheit oder eine ähnliche Form des Prinzips der Souveränität als die Grundlage ihres politischen Glaubensbekenntnisses akzeptieren. Einerseits verlangt das von ihnen akzeptierte Prinzip, sich jeder Herrschaft zu widersetzen außer der Herrschaft der Majorität, also auch der Herrschaft des neuen Tyrannen; andererseits fordert dasselbe Prinzip von ihnen die Anerkennung jeder Entscheidung der Majorität und damit auch die Anerkennung der Herrschaft des neuen Tyrannen. Es ist natürlich, dass der Widerspruch in ihrer Theorie ihre Handlungen lähmen muss. Diejenigen unter uns Demokraten, die die institutionelle |119|Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten fordern und die insbesondere auf dem Recht bestehen, die Regierung aufgrund eines Majoritätsvotums zum Rücktritt zu veranlassen, müssen daher für diese ihre Forderungen eine bessere Begründung suchen als eine widerspruchsvolle Theorie der Souveränität.“
Poppers Problemsituation ist die auf eine Denkblockade zurückgeführte Handlungsblockade zahlreicher Demokraten angesichts der Machtergreifung durch Hitler. Zur Auflösung dieser Blockaden unternimmt er nichts Geringeres, als das übliche Verständnis von Demokratie grundlegend zu verändern. Er orientiert sich an der Asymmetrie zwischen Freude und Leid und legt sein alternatives Verständnis von Demokratie darauf fest, das mit einer Tyrannei verbundene Leid zu vermeiden. Aus dieser Perspektive sind demokratische Wahlen für ihn dann ein Mittel zum Zweck. Mit dieser kategorialen Umstellung weist er einen Ausweg aus der ansonsten seines Erachtens hoffnungslosen intellektuellen Situation der Jahre 1933ff.:
„Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne annimmt, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität annehmen, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.“ [182]
(4) In bezug auf die zweite Frage können hier zunächst einige Hinweise gegeben werden, bevor die nächsten Abschnitte ausführlicher zur Diskussion stellen, dass sich die Anwendungen eines reformulierten kritischen Rationalismus recht deutlich von Poppers eigenen Anwendungen unterscheiden.
Erstens hat Popper den von ihm selbst initiierten Kriterienwechsel von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit nicht konsequent vollzogen, mit der durchaus bemerkenswerten Folge, dass er praktisch sein gesamtes Werk – angefangen von der Wissenschaftstheorie über die Methodologie der Sozialwissenschaften bis hin zu seinem Plädoyer für die offene Gesellschaft – als nicht-wissenschaftlich einstuft, weil es nicht in empirischen Tests nachprüfbar ist.[183] Allenfalls der späte Popper scheint zu der Auffassung gelangt zu sein, dass sogar Interpretationen in den Bereich der Wissenschaft fallen, sofern sie kritisierbar, insbesondere konstruktiv kritisierbar, sind.[184]
|120|Zweitens, und dies hat nicht einmal der späte Popper erkannt, hat die Reformulierung des kritischen Rationalismus gravierende Konsequenzen für mindestens eins der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie: Sobald man das Prinzip der (konstruktiven) Kritik zur Leitidee einer Theorie sozialen Lernens macht, erübrigt sich die Frage nach dem Abgrenzungskriterium. Poppers Versuch, den ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ als Pseudo-Wissenschaft überführen zu können, zielt auf eine Diskreditierung des Gegners, auf einen Abbruch der Diskussion. Eine solche Abgrenzung bewirkt eine diskursive Ausgrenzung, nicht aber eine diskursive Überbietung durch bessere Argumente. Dies lässt erwarten, dass die in deutlicher Kontinuität zu Popper erfolgte Reformulierung des kritischen Rationalismus werkimmanent eine gewisse Sprengkraft entfalten könnte. Der Bestätigung dieser Erwartung dienen die nächsten drei Abschnitte. Sie diskutieren für jede Ebene des thematischen Spektrums anhand eines Anwendungsbeispiels, inwiefern die vorgeschlagene Re-Formulierung zu einer Re-Aktualisierung des kritischen Rationalismus beitragen kann.
6. Demokratie in Europa
(1) Zum ersten Anwendungsbeispiel: Karl Popper gehört zu den vehementesten Verfechtern der Demokratie, die er als eine politische Methode interpretiert, aus Fehlern zu lernen, und die er (deshalb) gegen totalitäre Gefährdungen verteidigt. Sein Problem besteht darin, ein Argument zu entwickeln, das es Demokraten erlaubt, einen demokratisch gewählten Tyrannen zu bekämpfen. Zu diesem Zweck löst er den Demokratiebegriff von dem Wahlakt als Ursprung politischer Herrschaft und bindet ihn statt dessen an die verfassungskonforme Ausübung politischer Herrschaft. Sie soll einer Kontrolle durch die Bürger, d.h. die Beherrschten, unterworfen sein. Nicht die Wahl, sondern die Abwahl(möglichkeit) ist für Poppers Demokratiebegriff konstitutiv. Analog zu Poppers wissenschaftstheoretischem Perspektivwechsel weg von den Quellen (vermeintlich) sicherer Erkenntnisautorität hin zu den prozessualen Bedingungen für Erkenntnisfortschritt, verbindet sich mit seinem Demokratiebegriff ein Perspektivwechsel weg von den Quellen politischer Autorität hin zu den prozessualen Bedingungen politischer Fortschritte. Beide Perspektivwechsel verändern die jeweilige Fragestellung und rücken so die institutionellen Bedingungen sozialen Lernens in den Mittelpunkt.
Poppers Demokratiebegriff, sein Begriff einer Abwahldemokratie, enthält eine Botschaft, die nur vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten Problemsituation, der Machtergreifung Hitlers, zu verstehen ist. Die Botschaft besteht darin, dass eine Regierung als undemokratisch, d.h. als Tyrannei, zu (dis-)qualifizieren ist, sobald sie sich durch Verfassungsmanipulation einer demokratischen Abwahlmöglichkeit entzieht, und zwar unabhängig davon, ob sie von einer Mehrheit der Bürger per Wahlakt ins Amt gesetzt worden ist. Die Pointe dieser Botschaft liegt darin, jene Anhänger der Demokratie aus einer Denk- und Handlungsblockade zu befreien, deren Demokratiebegriff an einem bloßen Oberflächenphänomen haftet: am Ursprungsakt politischer Herrschaft durch Mehrheitsbeschluss. Popper geht es darum, im Wege konstruktiver Kritik demokratische (Selbst-)Missverständnisse |121|aufzuklären, die einem demokratischen Widerstand gegen Hitler im Wege stehen. Vor diesem Hintergrund lautet die im folgenden einzulösende These, dass aufgrund der mittlerweile radikal veränderten Problemsituation nicht Poppers Pointe, sondern nur das Prinzip seiner Pointe aktualisiert werden kann.
(2) Die heutige Problemsituation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein oberflächlicher Demokratiebegriff bewährte Institutionen in Frage stellt. Neben Forderungen nach einer sog. ‚Demokratisierung der Wirtschaft‘, die einer Enteignung privater Eigentumsrechte gleich käme, sind ‚demokratische‘ Vorbehalte gegenüber der Europäischen Union das derzeit wohl gravierendste Beispiel. Der Grund für diese Vorbehalte liegt in einer strukturellen Diskrepanz zwischen der Unionsverfassung und der Verfassung ihrer Mitgliedstaaten. In den Mitgliedstaaten wird die Regierung durch ein Parlament kontrolliert, das zugleich als Gesetzgeber tätig ist. In der Europäischen Union hingegen wird die Gesetzgebungsfunktion von den Vertretern der nationalen Regierungen ausgeübt, während das Europäische Parlament kaum über Kompetenzen verfügt. Diese strukturelle Diskrepanz wird von vielen als Demokratiedefizit, d.h. als Legitimationsdefizit, wahrgenommen.
Solange – nach nationalstaatlichem Vorbild – Demokratie mit parlamentarischer Demokratie gleichgesetzt wird, entsteht der missliche Eindruck, es gebe einen Widerspruch zwischen der Europäisierung und der Demokratisierung von Politik, denn die Verlagerung politischer Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Union kommt einer Entparlamentarisierung gleich. Es entsteht der Eindruck, als würden die materiellen und immateriellen Vorteile der Union – angefangen von friedlicher Koexistenz über kulturellen Austausch bis hin zur Freizügigkeit von Gütern und Dienstleistungen, СКАЧАТЬ