Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies
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Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

Автор: Ingo Pies

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная деловая литература

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isbn: 9783846345757

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СКАЧАТЬ Fehler. Die zweite Möglichkeit setzt völlig anders an und unterscheidet zwischen unzweckmäßigen und zweckmäßigen Übertreibungen. Letztere werden systematisch gerechtfertigt: als Übertreibungen in die richtige Richtung. Beispiel: Will man eine verlässliche Kostenuntergrenze schätzen, so ist es zweckmäßig, die zu addierenden Schätzpositionen im Zweifelsfall stets zu niedrig anzusetzen. Wenn schon Ungenauigkeiten in Kauf genommen werden müssen – und hierin liegt ein Spezifikum von Schätzungen –, dann kommt es darauf an, dass jede einzelne Angabe in die richtige Richtung übertrieben – im Beispiel: untertrieben – wird. Eine einzige Abweichung nach oben zerstört die Verlässlichkeit der Kostenuntergrenze, d.h. sie macht das Erkenntnisinteresse zunichte. In bezug auf dieses Erkenntnisinteresse lassen sich zweckmäßige und unzweckmäßige Übertreibungen eindeutig voneinander unterscheiden.

      Die erste Rechtfertigungsmöglichkeit macht sich die überaus populäre Vorstellung zu eigen, das Verhältnis von Theorie und Realität dadurch bestimmen zu wollen, dass man nach der Realitätsnähe theoretischer Annahmen fragt, wobei von vornherein unterstellt ist, realitätsnahe Annahmen seien besser als realitätsferne Annahmen. Die zweite Rechtfertigungsmöglichkeit setzt grundlegend anders an. Sie erörtert den Realitätsbezug theoretischer Annahmen, indem sie zunächst – rein theorie-immanent – nach dem Problembezug theoretischer Annahmen fragt und sodann – mit Blick auf die Realität – die Folgefrage stellt, inwiefern die jeweilige Problemstellung Relevanz beanspruchen kann. Aus dieser differenzierten Perspektive sind die Schlüsse der ersten Rechtfertigungsmöglichkeit in aller Regel Kurzschlüsse, weil sie das zugrunde liegende Problem ausblenden und folglich jenen Maßstab vermissen lassen, ohne den methodologische Erörterungen notorisch unfruchtbar sind. Was heißt das nun konkret?

      Das Rationalitätsprinzip, die Annahme nutzenmaximierenden Verhaltens, unterstellt den Individuen, dass sie ihre eigenen Ziele bestmöglich verfolgen wollen. Die Intentionalität individuellen Verhaltens wird hier übertrieben. Es gibt viele Problemstellungen, für die eine solche Annahme unzweckmäßig wäre: als Übertreibung in die falsche Richtung. Dem i.e.S. ökonomischen Ansatz liegt jedoch eine Problemstellung zugrunde, in bezug auf die das Rationalitätsprinzip eine Übertreibung in die richtige Richtung darstellt, denn hier geht es um die Erforschung der (aggregierten) nicht-intendierten Effekte intentionalen Handelns. Die methodologische Pointe des ökonomischen Ansatzes liegt gerade darin, dass das soziale Zusammenspiel gesellschaftlicher Akteure Ergebnisse zeitigt, die sich der Intentionalität der Akteure entziehen, und zwar insbesondere auch dann entziehen, wenn man diese Intentionalität übertreibt. Beispiel: Angebotsausdehnungen führen zu Preissenkungen, d.h. zu einem nicht-intendierten Ergebnis, das den Intentionen gewinnmaximierender Unternehmen zuwiderläuft. Im übrigen hat dies niemand klarer gesehen als Popper selbst, der ähnliche Beispiele anführt und explizit schreibt: „Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften |129|besteht … in dem Versuch …, die unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen absichtlicher menschlicher Handlungen zu analysieren … Eine Handlung, die genau unseren Plänen gemäß verläuft, führt zu keinem Problem für die Sozialwissenschaften.“[193]

      Die Pointe des ökonomischen Ansatzes liegt im Hiatus zwischen der Intentionalität individuellen Verhaltens und der Nicht-Intentionalität – schärfer noch: der Kontra-Intentionalität – sozialer Verhaltensergebnisse, wie sie für Dilemmastrukturen charakteristisch ist.[194] In bezug auf diese spezifische Problemstellung erweist sich das Rationalitätsprinzip als zweckmäßig, als Übertreibung in die richtige Richtung. Wie relevant ist nun diese Problemstellung? Der Rekurs auf soziale Dilemmata erlaubt es, die institutionelle Bedingtheit zivilisatorischer Fortschrittsleistungen herauszustellen, seit Adam Smith ein wichtiges Anliegen der Ökonomik: Der Wohl-Stand breiter Bevölkerungsschichten hängt nicht vom Wohl-Wollen der Unternehmer ab, sondern davon, dass diese – nicht zuletzt durch Wettbewerb – mit Anreizen versorgt werden, ihre Leistungen in den Dienst anderer Menschen zu stellen. Für ein solchermaßen institutionalisiertes Wohl-Verhalten aber ist Wohl-Wollen weder notwendig noch hinreichend. Der Rekurs auf soziale Dilemmata erlaubt es ferner, soziale Missstände auf institutionelle Fehlanreize zurückzuführen, angefangen von Aufrüstungswettläufen und Abwertungsspiralen über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, über Umweltverschmutzung und die Erosion von Standards bis hin zu Arbeitslosigkeit und Inflation. Ökonomische Erklärungen kommen ohne Schuldige aus. Dies beugt „Verschwörungstheorien“ vor, wie insbesondere Popper (1945, 1992b; S. 111ff.) betont hat. Zugleich wird die Perspektive auf den Modus gesellschaftlichen Lernens fokussiert. Institutionelle Reformen rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der Umsetzbarkeit solcher Reformen ist es außerordentlich förderlich, aufzeigen zu können, dass an den Missständen niemand ein unmittelbares Interesse hat, da sie sich als soziale Ergebnisse individueller Intentionalität entziehen; dass aber sehr wohl – mittelbar – ein gemeinsames Interesse besteht, die Missstände zu beseitigen, indem man mit Hilfe institutioneller Reformen die Anreize für Handlungen verändert, an denen die Akteure unmittelbar interessiert sind. Als These zusammengefasst: Der ökonomische Ansatz generiert politisch relevante Informationen für ein institutionell differenziertes Management sozialer Dilemmastrukturen. Dieses situationslogische Verfahren basiert auf der kategorialen Unterscheidung zwischen der Intentionalität individuellen Verhaltens und der Kontra-Intentionalität sozialer Ergebnisse in Dilemmastrukturen. In bezug auf die Problemstellung, die institutionelle Kanalisierung der nicht-intendierten Effekte intentionalen Verhaltens zu erforschen, erweist sich das Rationalitätsprinzip als zweckmäßig, als Übertreibung in die richtige Richtung.[195]

      |130|8. Popper und die Philosophie: Methodologie als ‚constitutional science‘[196]?

      (1) Zum dritten Anwendungsbeispiel: Karl Popper ist ein großer Bewunderer und zugleich ein vehementer Kritiker der Philosophie. Einerseits sieht er in der Philosophie den Versuch, den zivilisatorischen Übergang von der geschlossenen Gesellschaft zur offenen Gesellschaft zu reflektieren, d.h. einen i.w.S. politischen Problemdruck zu verarbeiten, mit der durchaus nicht-intendierten Konsequenz, dass gerade hierdurch die griechische Philosophie zur Wiege der Wissenschaften wird.[197] Andererseits spricht Popper bereits in seiner „Logik der Forschung“[198] von dem „traurigen Zustand, den man philosophische Diskussion nennt“ und den er mit seiner Wissenschaftstheorie „überwinden“ will. Und in seiner „Objektiven Erkenntnis“[199] erhebt er den Anspruch, „eine Diskussion wiederzubeleben, die drei Jahrhunderte lang in Vorverhandlungen steckengeblieben ist“. Hier finden sich scharfe Angriffe auf die von ihm so genannten „Fachphilosophen“, die er dafür verantwortlich macht, den realweltlichen Problembezug aus den Augen zu verlieren und die Philosophie zur bloßen Scholastik, zur Wortklauberei degenerieren zu lassen, „zum Argumentieren ohne ein ernsthaftes Problem“ und zum Argumentieren ohne „Maßstäbe“.[200]

      |131|Poppers kritische Haltung gegenüber der Philosophie wird vielleicht am besten deutlich im ersten Teilband seiner „Vermutungen und Widerlegungen“[201], vor allem im Einleitungsaufsatz[202]. Hier bemüht er sich um eine konstruktive Kritik des Empirismus und Rationalismus, d.h. jener beiden konkurrierenden Denkschulen, die die Beobachtung bzw. den Intellekt als primäre Quelle menschlicher Erkenntnis auszeichnen. Er führt den Streit dieser Denkschulen auf eine verfehlte Fragestellung zurück. Beide fragen nach dem Ursprung des Wissens, nicht aber nach seiner Gültigkeit. Es ist eine Veränderung dieser Problemstellung, durch die Popper eine – im oben entwickelten Sinne – ‚orthogonale Positionierung‘ zu einem 300jährigen Philosophenstreit anstrebt. Poppers Versuch einer diskursiven Überbietung der beiden Gegenpositionen mündet schließlich in (s)eine „kritische Philosophie des Alltagsverstandes“[203]. Insofern verbindet sich mit seinem kritischem Rationalismus das Anliegen, die Philosophie durch eine Theorie objektiver Erkenntnis wieder auf Vordermann zu bringen: sie an den Stand der Probleme der modernen Wissenschaft heranzuführen und mit Maßstäben zu versorgen, diese Probleme rational diskutieren zu können. Die Stoßrichtung dieser Argumentation zielt also in die Philosophie hinein.[204]

      Die Reformulierung des kritischen Rationalismus als eine Theorie argumentationsgestützten sozialen Lernens, das auf konstruktive Kritik angewiesenen ist, bietet hingegen die Möglichkeit, die argumentative Stoßrichtung gleichsam umzukehren, d.h. die Methodologie nicht in СКАЧАТЬ