Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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Die thematische Spannweite
|102|Zweitens wird Popper nicht müde zu betonen, dass all diese Beiträge systematisch zusammenhängen, dass es sich um Anwendungen ein und desselben Denkansatzes handelt, um Anwendungen des kritischen Rationalismus.
Drittens bleibt die Genese dieses Denkansatzes weitgehend im Dunkeln. Schon gar nicht wird sie durch die Reihenfolge der Schriften wiedergegeben: Zum einen klaffen Verfertigung und Veröffentlichung der Schriften zeitlich z.T. weit auseinander. Zum anderen scheinen die grundlegenden politischen und methodologischen Überzeugungen Poppers geraume Zeit vor der ersten (wissenschaftstheoretischen) Buchpublikation – und zudem koevolutiv – entstanden zu sein.
Hinzu kommt eine vierte Zugangsschwierigkeit. Nicht nur setzt das Werk ein, nachdem die Entstehung des Denkansatzes bereits (weitgehend) vollzogen ist; darüber hinaus sind die Schriften von Popper so angesetzt, dass sie auch die weitere Entwicklung seines Denkens eher im Dunkeln lassen, denn auf (vermeintliche) Gegenargumente, die er der Sache nach anerkennt, reagiert Popper regelmäßig mit dem Hinweis – und oft sogar mit dem Nachweis –, dies immer schon, d.h. bereits in seinen Frühschriften, so gesehen zu haben. Poppers Standardantwort auf Kritik besteht darin, missverstanden worden zu sein, und Neuerungen erfolgen bei ihm – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets im Stil einer Ausarbeitung alter Ideen, die sich bis in seine frühe Jugend zurückverfolgen lassen.
In der Tat ist Poppers Werk in einem ungewöhnlichen Ausmaß Primärliteratur und Sekundärliteratur zugleich. Es ist durchzogen von autobiographischen Schilderungen, Eigenzitaten und Selbstkommentaren. Manche Leser werden hiervon abgestoßen und empfinden die Form einer solchen Argumentation als – je nachdem – manieriert, arrogant, selbstverliebt, monologisierend oder gar dogmatisch. Doch sollte man hier nicht allzu empfindlich sein. Neben dem Versuch, gravierende Missverständnisse seiner Position zurückzuweisen und den systematischen Zusammenhang seiner Auffassungen zu verdeutlichen, bilden Poppers autobiographische Selbstinterpretationen nämlich geeignete „Ausgangspunkte“[141] für eine kritische Rekonstruktion des zugrunde liegenden Denkansatzes.
2. Popper über Popper: Die autobiographische Selbstinterpretation
Poppers eigener Auskunft zufolge sind es zwei Ereignisse, die ihn – als Siebzehnjährigen – besonders geprägt haben. Das erste Ereignis ist politischer Natur.[142] Im Sommer 1919 wurden junge Arbeiter beim Versuch, gefangene Kommunisten zu befreien, von der Wiener Polizei erschossen. Sie waren unbewaffnet – und auch ansonsten weitgehend unvorbereitet – in einen Kampf geschickt worden, von dem ihre Parteiführer annahmen, dass er mit historischer Notwendigkeit gewonnen werde. Hieraus zog Popper diverse intellektuelle Konsequenzen. So machte er es sich zur Auffassung, dass man für die eigenen Ideen allenfalls sich selbst, nicht jedoch andere opfern dürfe und dass jene Gesellschaftsordnungen |103|besonders vorzugswürdig seien, in denen es möglich ist, politische Auseinandersetzungen friedlich auszutragen.[143]
Das zweite Ereignis ist wissenschaftlicher Natur.[144] Anlässlich der Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 konnten bestimmte Aussagen der Relativitätstheorie Albert Einsteins erstmals experimentell überprüft werden und wurden in der Tat bestätigt. Die bis dahin erfolgreichste Theorie aller Zeiten, die schlechterdings für wahr gehaltene Physik Isaac Newtons, wurde nachdrücklich in Frage gestellt und erschien nunmehr als bloßer Spezialfall der allgemeineren Theorie Einsteins, die Bedingungen angeben konnte, wann mit einem Scheitern der Newtonschen Physik zu rechnen sei und wann nicht. Popper war nicht nur vom Erfolg dieser Prognose nachhaltig beeindruckt, sondern auch und vor allem davon, dass Einstein das Risiko eines Misserfolgs überhaupt eingegangen – und sogar gezielt eingegangen – war: Zunächst maßgeblich beeinflusst durch die Lektüre von Karl Marx, Sigmund Freud und Alfred Adler, dessen zeitweiliger Mitarbeiter er später war, hatte Popper ein latentes Unbehagen gegenüber allen drei Ansätzen entwickelt. Auf die Marxisten, Freudianer und Adlerianer in seinem Bekanntenkreis wirkte es faszinierend, in jedem tatsächlichen oder auch nur denkbaren Sachverhalt eine Bestätigung der jeweiligen Theorie sehen zu können, während – so Poppers Interpretation – Einstein seiner eigenen Theorie gegenüber eine völlig andere Einstellung zeigte. Einstein gab Bedingungen an, unter denen er sich genötigt sähe, seine Theorie verwerfen oder doch nachbessern zu müssen. Hieraus zog Popper die Konsequenz, sich eine solchermaßen (selbst-)kritische Einstellung zu eigen machen zu wollen.
Diese beiden Ereignisse bilden eine nützliche Hintergrundfolie für das Verständnis der wissenschaftstheoretischen Schriften Poppers auf der einen Seite, seiner politischen Schriften auf der anderen Seite, aber auch für das Verständnis ihres systematischen Zusammenhangs, der durch Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften vermittelt ist. Als These formuliert: Poppers politische Stellungnahmen beruhen auf einer Anwendung seiner sozialwissenschaftlichen Methodologie; diese ist ihrerseits eine Anwendung seiner Wissenschaftstheorie; Poppers Wissenschaftstheorie wiederum ist eine Anwendung seines konzeptionellen Denkansatzes, des kritischen Rationalismus; diese Hintergrundkonzeption ist ihrerseits das Produkt einer systematisch integrierten Lösung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie; und jedes dieser beiden Grundprobleme steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den beiden prägenden Ereignissen des Jahres 1919. Der Erläuterung und Einlösung dieser These sind die beiden nächsten Abschnitte gewidmet.
|104|3. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie
(1) In seinem wissenschaftstheoretischen Frühwerk[145] setzt sich Popper mit zwei Problemen auseinander, die von grundlegender Bedeutung für die Erkenntnistheorie sind. Das erste Problem nennt er das Abgrenzungsproblem. Es geht Popper um die Frage, wie man Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft unterscheiden könne.[146] Als Abgrenzungskriterium schlägt er „Falsifizierbarkeit“ vor: Kennzeichen der Wissenschaft sei es, sich um prüfbare, d.h. prinzipiell widerlegbare, Aussagen zu bemühen. Kennzeichen von Pseudo-Wissenschaft sei es hingegen, genau dies nicht zu tun, sondern statt dessen mit Immunisierungen und tautologischen Aussagen zu arbeiten. Popper zufolge bleibt Pseudo-Wissenschaft dem Stadium der Metaphysik durchgängig verhaftet (Abb. 2). Anfang und Ende liegen hier im Bereich metaphysischer, d.h. nicht-prüfbarer, Aussagen. Demgegenüber beginne wahre Wissenschaft zwar oft mit metaphysischen Ideen (als Heuristik). Sie bleibe hierbei jedoch nicht stehen, sondern bemühe sich, ihre metaphysischen Anfangsgründe in empirisch testbare Theorie-Ergebnisse zu transformieren. Für Popper setzt sich wahre Wissenschaft dem Risiko des Scheiterns aus. Genau das meint Falsifizierbarkeit.
Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium
(2) Das zweite Problem nennt Popper das Induktionsproblem. Hier geht es ihm um die Frage, ob und wann induktive Schlüsse gültig sind.[147] Letztlich zielt diese Frage auf die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion: Verfügt die Wissenschaft über eine Methode, aus einzelnen Beobachtungen allgemeingültige Aussagen generieren zu können? Seine Antwort auf diese Frage ist ein klares nein: Popper ist Fallibilist. Für ihn gibt es keine sichere Erkenntnis, keine letzten Gewissheiten, kein unfehlbares Wissen. Aus seiner Sicht ist jedes Wissen Vermutungswissen; es ist konjektural, hypothetisch, fallibel. Dies gilt auch und erst recht für wissenschaftliches Wissen. Niemand, auch |105|die Wissenschaft nicht, verfügt über einen Königsweg zur sicheren Erkenntnis. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets vorläufiger Natur und können sich jederzeit als falsch erweisen. Dennoch kann die Wissenschaft Fortschritte machen. Freilich hängt ihre Fortschrittsfähigkeit von der Methode ab. Worin aber besteht nun die Methode einer fortschrittsfähigen Wissenschaft, wenn nicht in der Induktion? Poppers Antwort auf diese Frage ist ein radikaler Deduktivismus. Er vertritt die Auffassung, dass alle denkbaren Methoden, sich der (prinzipiell vorläufigen) Gültigkeit СКАЧАТЬ