Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie - Ingo Pies страница 35

Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

Автор: Ingo Pies

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная деловая литература

Серия:

isbn: 9783846345757

isbn:

СКАЧАТЬ Methode gibt“[148]. Dieser Auffassung liegen zwei Argumente zugrunde.

      Erstens hält Popper die induktive Methode für eine Fiktion, für eine auf erkenntnistheoretischen Missverständnissen und empiristischen Selbstmissverständnissen beruhende Einbildung, und zwar einfach deshalb, weil es aus seiner Sicht reine Beobachtungstatsachen nicht geben kann. Vielmehr gehen jeder Beobachtung bereits bestimmte Erwartungen voraus. Erwartungen – gerade auch enttäuschte Erwartungen, d.h. Probleme – sind stets vorgängig; sie sind das systematisch Primäre jeder Erkenntnis. Popper weist die Vorstellung einer induktiven Erfahrungsgrundlage für Theorien zurück und vertritt die diametral entgegengesetzte Auffassung, dass Erfahrungen ihrerseits auf einer theoretischen Grundlage beruhen. Für ihn steht fest, „dass Beobachtungen … immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und dass sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind“[149]. Deshalb sind Beobachtungstatsachen nicht jene theorie-unabhängige Basis, deren ein induktives Verfahren notwendig bedarf. Dies verurteilt die Induktion zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit. Als wissenschaftliche Methode spielt sie keine Rolle.

      Zweitens hält Popper eine theoretische Aussage dann für vorläufig gültig, wenn sie ernste Widerlegungsversuche (bis auf weiteres) erfolgreich überstanden hat. Aus seiner Sicht können theoretische Aussagen über die Wirklichkeit niemals verifiziert, wohl aber (wiederum vorläufig) falsifiziert werden. Logisch betrachtet, beruht ein solcher Falsifikationsschluss auf dem ‚modus tollens‘, also darauf, die Falschheit theoretischer Implikationen auf die Falschheit der diesen Implikationen vorausgehenden Annahmen zu übertragen. Dieser Übertragungsschluss jedoch ist deduktiver Natur. Folglich kann über die vorläufige Gültigkeit theoretischer Aussagen nur mittels deduktiver Methoden entschieden werden.[150] Poppers Lösung des Induktionsproblems besteht also in einer konsequent fallibilistischen Deduktion. Wie hängen nun die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie zusammen? Und in welcher Verbindung stehen sie mit den Ereignissen des Jahres 1919?

      (3) Der Zusammenhang der beiden Probleme ergibt sich daraus, dass die induktive Methode von zahlreichen Wissenschaftlern – implizit oder explizit – als |106|Abgrenzungskriterium aufgefasst worden ist. Nach dem Motto „it needs a theory to beat a theory“ musste also erst ein anderes Abgrenzungskriterium als überlegene Alternative formuliert werden, um Poppers Lösung des Induktionsproblems akzeptabel zu machen. Aus diesem Grund hat Popper von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass das Abgrenzungsproblem das grundlegendere Problem darstellt und dass das Induktionsproblem sogar auf das Abgrenzungsproblem zurückgeführt werden kann.[151] Dies hat zur Folge, dass auf beide erkenntnistheoretischen Grundlagenfragen letztlich die gleiche Antwort gegeben werden kann. Der Problemselbigkeit korrespondiert eine Identität der Lösungen: Die Lösung des Abgrenzungsproblems besteht im Kriterium der Falsifizierbarkeit, und die Lösung des Induktionsproblems besteht in einer auf Falsifizierungsversuche ausgerichteten deduktiven Methode.

      (4) Was nun aber die Verbindung zu den beiden Ereignissen des Jahres 1919 anbelangt, so ist augenfällig, dass das erste, politische Ereignis der Formulierung des Abgrenzungsproblems und das zweite, wissenschaftliche Ereignis der Formulierung des Induktionsproblems den Weg weist. Poppers Reaktion auf den tragischen Tod politisierter Jugendlicher im Wien des Jahres 1919 bestand in einer jähen Wende vom Marxismus zum Anti-Marxismus, denn er machte den Marxismus politischer Führer dafür verantwortlich, dass hier Menschenleben einer Ideologie geopfert worden waren, die den historischen Sieg sicher auf ihrer Seite wusste. Fortan wollte Popper – aus Gewissensgründen – dem marxistischen Anspruch entgegentreten können, eine marxistische Sozialwissenschaft könne in ähnlicher Weise ein Geschichtsgesetz aufstellen wie die Naturwissenschaft ein Naturgesetz. Wie lässt sich der ‚wissenschaftliche Sozialismus‘ als Pseudo-Wissenschaft überführen? Es ist exakt diese Frage, durch die Popper zur Formulierung des Abgrenzungsproblems geführt wurde.[152]

      Die Formulierung des Induktionsproblems hingegen erfolgte erst einige Jahre später, aber sie erfolgte unter dem Eindruck der Theorie-Erfolge Albert Einsteins.[153] Zum einen hatten die in zahllosen Experimenten erfolgten Bestätigungen der Physik Newtons nicht verhindern können, dass Newton durch Einstein überholt wurde. Die induktive Basis erwies sich – völlig wider Erwarten – als schwankende Grundlage. Zum anderen hatte Einstein seine Theorie nicht durch Induktion gewonnen, sondern mit Hilfe kühner Vermutungen: kühner Annahmen und kühner (deduktiver) Folgerungen, um deren empirische Testbarkeit er dezidiert bemüht war. Einstein nahm die Möglichkeit eines empirischen Scheiterns seiner Theorie nicht nur passiv in Kauf. Vielmehr setzte er seine Theorie sogar aktiv dem Risiko des Misserfolgs aus. Hierin wurde er Popper zum Vorbild einer kritischen Einstellung gegenüber Theorien – und insbesondere zum Vorbild |107|einer selbstkritischen Einstellung gegenüber eigenen Theorien. Mehr noch: Poppers Zurückweisung der induktiven Methode und seine Propagierung der auf Falsifizierbarkeit ausgerichteten deduktiven Methode (ent-)standen direkt unter dem Einfluss von – Poppers Interpretation von – Albert Einsteins Theoriestrategie und ihren Erfolgen.[154] Sie sind somit eine intellektuelle Verarbeitung des zweiten, wissenschaftlichen Ereignisses des Jahres 1919.

      4. Das Hintergrundkonzept: kritischer Rationalismus als Theorie sozialen Lernens

      Die Problemselbigkeit der beiden Grundprobleme und die letztliche Identität ihrer Lösungen münden in einen kritischen Rationalismus, der als Hintergrundkonzept allen weiteren Schriften Poppers eine eigentümliche Prägung verleiht. Als These formuliert: Der kritische Rationalismus Karl Poppers ist im Kern eine Lerntheorie, und zwar eine Theorie sozialen Lernens. Die Einlösung dieser These erfolgt in zwei Schritten. Zunächst geht es um eine philosophische Kennzeichnung des kritischen Rationalismus. Sodann wird gezeigt, inwiefern der chronologischen Reihenfolge vier zentraler Veröffentlichungen Poppers eine systematische Reihenfolge entspricht, weil sich alle vier Veröffentlichungen als Anwendungen des kritisch-rationalen Ansatzes interpretieren lassen.

      Ausgangspunkt der philosophischen Kennzeichnung des kritischen Rationalismus ist folgendes Zitat: „Bezeichnet man (nach Kant) das Induktionsproblem als ‚Humesches Problem‘, so könnte man das Abgrenzungsproblem ‚Kantsches Problem‘ nennen.“[155] Popper selbst sieht sich als Nachfolger Immanuel Kants. Er hat sich – so seine Selbstinterpretation – die erkenntnistheoretische Frage Kants zu eigen gemacht und aufgrund einer signifikant anderen Problemsituation eine neue Antwort gefunden. Diese Antwort ist der kritische Rationalismus. Durch ihn wird, so Poppers Anspruch, Kants Kritik der reinen Vernunft überholt.

      Popper zufolge war Kants Problemsituation durch David Hume und Isaac Newton gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Hume das Induktionsprinzip scharf kritisiert, und Kant sah sich genötigt, diese Kritik als berechtigt anzuerkennen. Auf der anderen Seite aber hatte Newton eine Physik vorgelegt, deren weltbewegende Theorie-Erfolge anzuerkennen Kant sich ebenfalls genötigt sah. Wie aber war beides zu vereinbaren? Kants geniale Antwort auf diese Frage bestand darin, zwischen empirischen Aussagen einerseits und den Kategorien empirischer Aussagen andererseits, etwa den ‚Anschauungsformen‘ von Zeit und Raum oder der Kausalitätskategorie, zu unterscheiden und auf Humes Induktionskritik |108|mit einer deduktiven Wendung zu reagieren, einer – für Kant: kopernikanischen – Wendung hin zu einer apriorischen Deduktion, die in dem berühmten Satz kulminiert: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“[156] Kant hielt diese Gesetze – unter dem Eindruck der Newtonschen Theorie-Erfolge – für unumstößlich wahr, für infallibel.

      Vor diesem Hintergrund ist Poppers eigene Problemsituation durch Immanuel Kant und Albert Einstein gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Kant – unter dem Einfluss Newtons – die unbezweifelbare Gültigkeit kategorialer Gesetzesaussagen behauptet. Auf der anderen Seite hatte Einstein die Physik Newtons überholt und gerade dadurch jeglichem Vertrauen in die Möglichkeit letztgültiger Erkenntnis die Basis entzogen. Poppers Reaktion auf diese radikal veränderte Problemsituation besteht darin, Kants Hypothetizismus in bezug auf empirische Aussagen – seine transzendentale Kritik synthetischer Urteile a priori – zu radikalisieren und nun auch jene Kategorien als prinzipiell fallibel aufzufassen, die der Generierung empirischer Aussagen СКАЧАТЬ