Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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(3) Nimmt man diese drei Tendenzaussagen zusammen, so führt – ähnlich wie die Theorie der ökonomischen Klassiker – auch Olsons ‚Logik‘ kollektiven Handelns zu durchaus kontra-intuitiven Einsichten. Die hier besonders interessierenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ansätze lassen sich am besten mit Hilfe von Abbildung 4 veranschaulichen, in der die Fälle einer Stabilität bzw. Instabilität kollektiven Handelns mit den Fällen sozial erwünschter bzw. unerwünschter Ergebnisse zu einem Vier-Quadranten-Schema kombiniert sind.
Der Fall, mit dem sich die Klassiker vornehmlich beschäftigt haben, ist im ersten Quadranten anzusiedeln. Ihrer Marktanalyse zufolge ist es gerade die Abwesenheit kollektiven Handelns – etwa in Form von Anbieterkartellen –, die auf Märkten sozial erwünschte Ergebnisse ermöglicht. Demgegenüber ist das Problem, |49|mit dem sich Olsons ‚Logik‘ vornehmlich beschäftigt, den Quadranten II und IV zuzuordnen. Hier wäre kollektives Handeln wünschenswert, kommt aber nicht – oder nicht im erwünschten Ausmaß – zustande.
Die gruppentheoretische Fragestellung
Angesichts der offensichtlichen thematischen Unterschiede sollte jedoch eine wichtige Gemeinsamkeit hinsichtlich der Argumentationsstruktur nicht übersehen werden. Olsons Argument ist nämlich in gewisser Weise genau spiegelbildlich angesetzt: Für die ökonomischen Klassiker hängt das tatsächliche Verhalten der Menschen von ihren Handlungsanreizen ab. Diese können so beschaffen – genauer: im Wege institutioneller Arrangements so ausgestaltet – sein, dass individuelle Rationalität ausreicht, um wechselseitige Tauschpotentiale zu realisieren. Wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, stellen sich die sozial erwünschten Ergebnisse – etwa niedrige Wettbewerbspreise bei hoher Versorgungsquantität und -qualität – als vornehmlich nicht-intendierte Ergebnisse intentionalen, auf Gewinn ausgerichteten, Verhaltens ein. Diese dem Alltagsverstand scheinbar geradewegs zuwiderlaufende Pointe wird von Olson nahezu strukturgleich dupliziert: Wenn kollektives Handeln zustandekommt, d.h. wenn Gruppen sich in der Realität wirksam mit öffentlichen Gütern versorgen können (Quadrant IV), so ist dies für ihn ein Resultat, das prinzipiell im Rekurs auf individuelle Anreize zu erklären ist, angesichts der ‚Logik‘ kollektiven Handelns jedoch nicht als intendiertes Ergebnis, sondern vielmehr primär als nicht-intendiertes Ergebnis rekonstruiert werden muss. Ausschlaggebend für kollektives Handeln ist Olson zufolge nicht der Wille, unmittelbar zu einem öffentlichen Gut beizutragen, sondern vielmehr der Anreiz, dies mittelbar zu tun. Damit wird es zu einer Frage institutioneller Arrangements, ob Gruppenmitglieder sich – durch selektive Anreize – veranlasst sehen, im gemeinsamen Gruppeninteresse zu handeln. Am Beispiel: Olsons ‚Logik‘ zufolge wird man nicht Mitglied des ADAC, um eine Autofahrerlobby zu unterstützen, sondern man zahlt Beiträge, um in den Genuss privater Güter – etwa der Pannenhilfe oder anderer Serviceleistungen (Beratungen, Zeitschriften, Versicherungen) – zu kommen, die Nicht-Mitgliedern vorenthalten bzw. nicht kostenlos zugänglich gemacht werden, und man nimmt als Mitglied dann mehr oder weniger billigend in Kauf, dass ein Teil der Beiträge für Lobby-Tätigkeiten verwendet wird. Insofern ist Olsons gruppentheoretisches |50|Paradoxon, dass rationale Akteure gerade aufgrund ihrer individuellen Rationalität ein gemeinsames Gruppeninteresse nur mit Hilfe der Anreizwirkungen institutioneller Arrangements in sozial erwünschter Weise verfolgen können, das direkte Analogon zum klassischen Theorem der Unsichtbaren Hand.
2. Gesellschaftstheorie: Das Problem der Stabilität kollektiven Handelns
Die ‚Logik‘ kollektiven Handelns fragt aus Sicht der Gruppenmitglieder nach den Problemen, die bei der Realisierung eines gemeinsamen Gruppeninteresses auftreten können, sie identifiziert mit Gruppengröße und Gruppenzusammensetzung wichtige Einflussfaktoren dieser Probleme, und sie zeigt auf, inwiefern – positive oder negative – selektive Anreize eine Problemlösung liefern können. Mit ihrer Anreiz-Perspektive eröffnet die ‚Logik‘ den Zugang zu einer ökonomischen Rekonstruktion beispielsweise der Gewerkschaftsbewegung. Sie lässt die – für eine Solidaritätsbewegung an sich befremdliche – Anwendung von Zwang und Gewalt, aber auch die Einrichtung von ‚closed shops‘ und anderen Formen einer Mitgliedschaftspflicht als Versuche zur Mobilisierung kollektiven Handelns verständlich werden.[67]
Solche Einsichten sind gesellschaftstheoretisch relevant, aber gewonnen werden sie nicht aus einer Gesellschaftstheorie, sondern aus einer Gruppentheorie. Erst in seinen späteren Schriften – hier interpretiert als Teil II des Gesamtwerks – hat Olson versucht, aufbauend auf seiner ‚Logik‘ eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Dabei ist gerade unter methodologischen Gesichtspunkten besonders interessant, dass diese Entwicklung auf einer Erweiterung, ja geradezu auf einer Umkehrung der gruppentheoretischen Fragestellung beruht. Hatte sich die (gruppentheoretische) ‚Logik‘ i.e.S. aus Sicht der Gruppenmitglieder mit den Schwierigkeiten bei der Organisation kollektiven Handelns beschäftigt, so rückt die nunmehr gesellschaftstheoretische ‚Logik‘ i.w.S. jene Schwierigkeiten ins Zentrum der Betrachtung, die sich – vor allem für Nicht-Mitglieder der Gruppe – ergeben, wenn es immer mehr Gruppen gelingt, die gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder wirksam zu verfolgen. Da diese Interessen unter Umständen auf Kosten Dritter verwirklicht werden, thematisiert die gesellschaftstheoretische ‚Logik‘ i.w.S. als paradigmatisches Problem – nicht die Instabilität, sondern gerade umgekehrt – die Stabilität kollektiven Handelns. Hierbei interessiert sich Olson insbesondere für die Frage, inwiefern Verteilungskoalitionen die Funktionsweise von Märkten beeinträchtigen. In gewisser Weise nimmt er dadurch das Thema der ökonomischen Klassiker teilweise wieder auf, vgl. Abbildung 5.[68]
|51|Olsons gesellschaftstheoretische Wendung der Gruppentheorie führt zu zahlreichen interessanten Überlegungen und Thesen. Seine Kernthese zum Niedergang von Nationen resultiert aus einer Kombination folgender Tendenzaussagen – vgl. Olson (1982, 1985; Kapitel 3, S. 46–98): (a) Die Organisation kollektiven Handelns braucht i.d.R. Zeit, und sie fällt (b) kleinen Gruppen systematisch leichter als großen. (c) Daher akkumulieren stabile Gesellschaften im Laufe der Zeit zwar immer mehr Organisationen, doch gibt es hinsichtlich der Interessenvertretung eine dauerhafte Asymmetrie zugunsten kleiner Gruppen. (d) Die Verteilungskoalitionen unter diesen Organisationen beeinträchtigen die statische und dynamische Effizienz der Gesellschaft; sie behindern die marktliche Allokation knapper Güter und Faktoren, und sie verringern die Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft und Politik, zum Nachteil letztlich aller Bürger der Gesellschaft.
Die gesellschaftstheoretische Fragestellung
Diese Kernthese identifiziert einen Quasi-Automatismus zum Niedergang stabiler Gesellschaften. Deren Misserfolg ist um so größer, je erfolgreicher sich Verteilungskoalitionen zu kollektivem Handeln organisieren können.[69] Mit Hilfe dieser gesellschaftstheoretischen (positiven) These lassen sich zahlreiche gesellschaftspolitische (normative) Empfehlungen generieren. Olsons gesellschaftspolitische Kernaussagen lauten: (a) Gegenüber Interessengruppen ist eine Politik des Laisser-faire nicht opportun. Eine im Interesse aller Bürger auf Dauer erfolgreiche Gesellschaft bedarf daher (b) einer Anti-Kartellpolitik im Bereich der Wirtschaft und (c) einer analogen Politik in den übrigen ‚Bereichen‘ der Gesellschaft. СКАЧАТЬ