Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор: Ingo Pies
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783846345757
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(3) Olson legt großen Wert auf die allgemeine Anwendbarkeit seiner ‚Logik‘ i.w.S. So diskutiert er zahlreiche Beispiele nicht nur im zeitlichen Längsschnitt, sondern auch im sozialen Querschnitt verschiedener Gesellschaften.[75] Über die |55|spezifischen Probleme von Entwicklungsländern leitet Olson folgende Tendenzaussagen ab.[76]
Erstens ist in diesen Ländern hinsichtlich der Stabilität kollektiven Handelns mit einer Asymmetrie zwischen Stadt und Land zu rechnen. Hohe Transport- und Kommunikationskosten machen es der Landbevölkerung wesentlich schwerer, ihre Interessenvertretung zu organisieren, während dies den Bewohnern der Städte vergleichsweise leichter fällt. Schon aufgrund ihrer räumlichen Nähe zur Regierung können diese sehr viel leichter politischen Druck ausüben. So entstehen Verteilungskoalitionen, die sich mit Privilegien versorgen, zumeist auf Kosten der Landbevölkerung. Ein typisches Beispiel hierfür sind Höchstpreise für Agrarprodukte, mit denen die Lebenshaltung in der Stadt subventioniert wird. Aus dieser Perspektive erscheint das für viele Entwicklungsländer typische Phänomen massenhafter Landflucht als ein letztlich politisch induziertes Problem regionalen ‚Rent-Seekings‘.
Zweitens ist in Entwicklungsländern hinsichtlich der politischen Einflussmöglichkeiten auch mit einer Asymmetrie zwischen Reich und Arm zu rechnen. Reichen Gruppen fällt es vergleichsweise leichter, sich Privilegien zu verschaffen. Diese Perspektive wirft neues Licht auf die insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren weit verbreitete und teilweise noch heute praktizierte Politik der Importsubstitution. Sie schützt eine relativ kapitalintensive Inlandsproduktion, deren Rendite künstlich erhöht wird. Die Kosten einer solchen Politik bestehen in einer Verteuerung der Exporte. Da solche Exporte i.d.R. auf den komparativen Vorteilen einer arbeitsintensiven Produktion beruhen, sind es vornehmlich Arbeiter und Bauern, d.h. die großen Gruppen der Armen, die die Kosten einer die wenigen Reichen begünstigenden Protektion tragen.
Beide Aussagen sind insofern gesellschaftstheoretisch gewendete Anwendungsfälle der gruppentheoretischen ‚Logik‘ i.e.S., als sie auf der These beruhen, dass kleine Gruppen sich leichter organisieren können als große Gruppen. Von daher führt die ‚Logik‘ zu einem zusätzlichen Argument zugunsten von Freihandel sowie wirtschaftlicher und/oder politischer Integration: Solche Maßnahmen erhöhen die potentielle Gruppengröße. Sie erschweren die Organisation von Verteilungskoalitionen. Sie erhöhen also nicht nur – durch größere Spezialisierungsvorteile – die Tauschmöglichkeiten, sondern sie erhöhen auch – durch die Erschwerung kollektiven Handelns – die Wahrscheinlichkeit, dass Tauschpartner ‚gains from trade‘ tatsächlich aneignen können.
Eine weitere Pointe dieser Perspektive besteht darin, dass sie das Zustandekommen historischer Integrationsprozesse vornehmlich als nicht-intendierte Konsequenz intentionalen Handelns rekonstruiert, und zwar gerade aufgrund des immensen Vorteilspotentials, das sich den Bürgern durch Integration eröffnet und dem der Charakter eines öffentlichen Gutes zukommt.[77]
|56|3. Staatstheorie: Das Problem eines mehr oder weniger umfassenden Interesses
In der Sekundärliteratur ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der von Olson gewählte Titel „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ insofern irreführend ist, als Olson hier vornehmlich mit dem durch Verteilungskoalitionen hervorgerufenen Niedergang von Nationen befasst ist.[78] Mit dem Aufstieg von Gesellschaften hat sich Olson eigentlich erst in seinen jüngsten Schriften intensiv beschäftigt, die hier als Teil III seines Gesamtwerks interpretiert werden. In diesen Schriften nimmt Olson eine komparative Analyse politischer Regimes vor. Er vergleicht autokratische und demokratische Arrangements, und zu diesem Zweck entwickelt er eine Stufentheorie staatlicher Herrschaft.
(1) Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass sowohl wirtschaftliche als auch politische Leistungen von Anreizen abhängen, und dass diese Anreize durch Eigentumsrechte gesetzt werden. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Olson drei politische Regimes: die Anarchie, die Autokratie und die Demokratie. (a) Kennzeichen der Anarchie ist eine ruinöse (politische) Konkurrenz, illustriert am Beispiel marodierender Räuberbanden im China der 1920er Jahre. Olson (1993a; S. 568) spricht von „uncoordinated competitive theft by ‚roving bandits‘“. Solche Räuberbanden, die davon leben, Bauern und Händler zu enteignen, (zer-)stören deren Eigentumsrechte und damit die wirtschaftlichen Anreize zu gesellschaftlicher Produktivität. (b) Kennzeichen der Autokratie ist ein (politisches) Monopol, illustriert am Beispiel sesshafter Räuber, deren territoriale Herrschaft die ruinöse Konkurrenz abschafft und durch verlässliche, erwartungssichere Ausbeutungsverhältnisse ersetzt. Olson (1993a; S. 567) sieht im Autokraten einen „‚stationary bandit‘ who monopolizes and rationalizes theft in the form of taxes“. Autokraten leben davon, die Bevölkerung dauerhaft auszubeuten. Deshalb ist der Übergang von Anarchie zu Autokratie damit verbunden, maximale Ausbeutung durch optimale Ausbeutung zu ersetzen. Bildlich gesprochen, füttert der Autokrat die Kuh, bevor er sie melkt.[79] (c) Kennzeichen der Demokratie ist, dass die Regierungsgewalt an mehrheitliche Bürgerzustimmung gekoppelt ist. In einem solchen System sind der Ausbeutung noch wesentlich engere Grenzen gesetzt als in der Autokratie. Selbst wenn auch hier durchgängig eigeninteressierte Akteure unterstellt werden, müssen die Kandidaten oder Parteien um die Zustimmung der Wähler werben und können daher ihr eigenes Wohl nur dadurch fördern, dass sie das Wohl der Bevölkerung zumindest teilweise mitberücksichtigen.
Für Olson ist der entscheidende Unterschied zwischen den drei Regimes institutioneller Natur. Er besteht in der Qualität politischer Eigentumsrechte. (a) In der Anarchie haben Herrscher ungesicherte Eigentumsrechte. Von einer solchen Konstellation gehen starke Konsum-, nicht jedoch Investitionsanreize aus. Solche Herrscher haben kein umfassendes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft, weil sie sich die Erträge von Investitionen in dieses Wohlergehen |57|nur unzulänglich aneignen können. Würde sich einer bei der Ausbeutung der Bevölkerung zurückhalten, so käme dies einem positiven externen Effekt gleich, von dem vor allem seine Konkurrenten profitierten, die um so größere Beute machen könnten. Die Folge ist politisches Trittbrettfahren. (b) In dem Maße, wie es einem Autokraten gelingt, politische Konkurrenz auszuschalten, herrschen sichere Eigentumsrechte. Im Vergleich zur Anarchie sind also in der Autokratie positive externe Effekte internalisiert. Der Autokrat kann sich die Erträge aus Investitionen in die Produktivität der Gesellschaft aneignen, weil diese Gesellschaft ihm quasi gehört. Als Monopolist hat er ein wesentlich umfassenderes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft. Er nimmt nicht nur, er gibt auch; allerdings gibt er nur, um letztlich mehr nehmen zu können. Aber immerhin: Ein Autokrat sorgt mit seinem Gewaltmonopol für öffentliche Ordnung, und darüber hinaus stellt er weitere öffentliche Güter bereit, und zwar so lange, bis aus seiner individuellen Sicht Grenznutzen und Grenzkosten zum Ausgleich gebracht sind. (c) Im Gegensatz zur Autokratie ist die Erwerbung und Ausübung politischer Herrschaft in der Demokratie Regeln unterworfen. Hier sind die Eigentumsrechte der Regierung durch verfassungsmäßige Schranken begrenzt. Zudem ist die Regierung stark an den Willen des Volkes gebunden. Da allerdings i.d.R. die Mehrheit ausreicht, um Regierungsgewalt zu erlangen, fällt das Interesse einer demokratischen Regierung zwar nicht mit dem umfassenden Interesse aller Bürger zusammen, aber es ist doch signifikant umfassender als das Interesse des Autokraten am Wohlergehen der Gesellschaft.
Für Olson wird damit der – ursprünglich gesellschaftstheoretische – Begriff des mehr oder weniger „umfassenden Interesses“ zum terminus technicus, der den staatstheoretisch entscheidenden Parameter bezeichnet, von dem die Leistung politischer Regimes abhängt. Interpretiert man Anarchie als das Resultat einer Gruppe konkurrierender Herrschaftsanwärter, die sich nicht zu kollektivem Handeln organisieren können (Quadrant II), Autokratie als eine Herrschaftselite, die sich als kleine Gruppe – metaphorisch: als Autokrat – organisiert (Quadrant III), und Demokratie als das Resultat einer Mehrheitskoalition (Quadrant IV), so lässt sich die grundlegende Fragestellung der Olsonschen Staatstheorie mit Hilfe von Abbildung 6 illustrieren. Sie fragt nach dem umfassenden Interesse unterschiedlicher Herrschaftskoalitionen.