Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie - Ingo Pies страница 20

Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

Автор: Ingo Pies

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная деловая литература

Серия:

isbn: 9783846345757

isbn:

СКАЧАТЬ staatstheoretische Fragestellung

      |58|Aus dieser staatstheoretisch gewendeten ‚Logik‘ folgen zwei grundlegende Tendenzaussagen: Die erste besagt, dass es der Bevölkerung um so besser geht, je umfassender das Interesse der Regierung ist. Die zweite besagt, dass dieses Interesse in der Autokratie umfassender ausfällt als in der Anarchie und dass es in der Demokratie noch umfassender ausfällt als in der Autokratie.

      Diese Tendenzaussagen stützen sich im Kern auf folgende Überlegungen – vgl. Abbildung 7 in Anlehnung an Olson (1991c): Ein rationaler, eigeninteressierter Autokrat betreibt Steuermaximierung. Er wählt den Maximalpunkt B der Laffer-Kurve LA. Die Lage dieser Kurve hängt teilweise von der Verwendung des Steueraufkommens ab, also davon, wieviel Geld der Autokrat für die Aufrechterhaltung seines Regimes oder für öffentliche Güter oder für eigene Konsumzwecke ausgibt. Da öffentliche Güter die Produktivität des Marktsektors – und mithin die Bemessungsgrundlage der Besteuerung – erhöhen, wird ein Autokrat diese Güter so weit bereitstellen, wie dies in seinem eigenen Interesse liegt. Er wird also jenes Bereitstellungsniveau wählen, bei dem die Grenzausgaben seinen steuerlichen Grenzeinnahmen gerade entsprechen.

      Abbildung 7:

      Autokratie versus Demokratie

      Im Unterschied zur Autokratie erfolgt in einer Demokratie die staatliche Umverteilung nicht zugunsten einer kleinen Gruppe – im metaphorischen Extremfall: zugunsten eines einzelnen –, sondern zugunsten einer großen Gruppe, der Mehrheitskoalition. Dieser für Olsons staatstheoretische ‚Logik‘ zentrale Unterschied macht sich in zweierlei Weise bemerkbar: zum einen in einer Verlagerung der Lafferkurve nach links oben (LD), zum anderen in der Wahl eines Optimalpunkts links vom Maximum in Punkt C. Der zwingende Grund hierfür liegt darin, dass die Mehrheit der Bürger – im Gegensatz zu einem Autokraten – ihr Einkommen nicht nur aus Steuereinnahmen bezieht, d.h. nicht nur als Umverteilungseinkommen, sondern zum Teil auch als Markteinkommen. Deshalb fallen die Wahlentscheidungen der Mehrheit systematisch anders aus als die des Autokraten, der schlicht seine Steuereinnahmen maximiert.

      |59|Dies betrifft zum einen die Verwendung der Steuern: Anders als ein Autokrat, profitiert die Mehrheit von der Bereitstellung öffentlicher Güter nicht nur indirekt, in Form höherer Steuereinnahmen, die das Umverteilungseinkommen steigen lassen, sondern auch direkt, in Form einer höheren Produktivität ihrer Marktaktivitäten. Dieser Effekt ist für die Verlagerung der Laffer-Kurve auf LD verantwortlich.[80] Zum anderen betrifft der Unterschied die Wahl des Steuersatzes. Gerade weil die Mehrheit nicht nur Umverteilungseinkommen erzielt, sondern auch Markteinkommen, liegt es in ihrem Interesse, das Gesamteinkommen zu maximieren. Ausgehend von Punkt C auf der Laffer-Kurve LD profitiert die Mehrheit, wenn niedrigere Steuersätze gewählt werden, weil den sinkenden Steuereinnahmen zunächst größere Markteinkommen aufgrund geringerer Fehlanreize gegenüberstehen. Die zentrale Tendenzaussage, die aus diesen Überlegungen resultiert, lautet in Olsons (1993a; S. 570) eigenen Worten:

      „Though both the majority and the autocrat have an encompassing interest in the society because they control tax collections, the majority in addition earns a significant share of the market income of the society, and this gives it a more encompassing interest in the productivity of the society. The majority’s interest in its market earnings induces it to redistribute less to itself than an autocrat redistributes to himself.“[81]

      (2) Aus diesen staatstheoretischen Überlegungen lassen sich nicht nur komparative Erkenntnisse, sondern auch verfassungspolitische Schlussfolgerungen ableiten. Zu den komparativen Erkenntnissen gehört, dass der Zeithorizont einer Regierung für ihr tatsächliches Verhalten von entscheidender Bedeutung ist. So besteht eine zentrale Schwäche autokratischer Regimes in dem notorisch ungelösten Problem der Nachfolgeregelung, dessen Lösung hingegen erforderlich ist, um den Zeithorizont eines Autokraten über seine eigene Lebenserwartung hinaus zu verlängern. In Demokratien ist dieses Problem sogar noch akuter, weil hier die Regierungszeit auf Legislaturperioden künstlich begrenzt wird. Demokratien verfügen jedoch über einen institutionellen Problemlösungsmodus, der diesen vermeintlichen Nachteil überkompensieren kann. Hier übernehmen politische Parteien nicht nur die Auswahl der Politiker, sondern auch die Kontrollfunktion innerhalb der Wahlperiode. Als Organisationen orientieren sie sich dabei an ihrem eigenen langfristigen Interesse. Die Analogien zum Unterschied |60|zwischen einer Personalunternehmung (Autokratie) und einem Gesellschaftsunternehmen (Parteiendemokratie) sind augenfällig und erklären die überlegene Funktionsweise demokratischer Regimes.

      Eine verfassungspolitische Schlussfolgerung der staatstheoretischen ‚Logik‘ wird von Olson selbst explizit gezogen – vgl. etwa Olson (1995; S. 25): Wenn die Bürger um so besser gestellt sind, je umfassender das Interesse ihrer Regierung am Wohlergehen der gesamten Gesellschaft ist, dann lässt sich ein Vorteil des Mehrheitswahlrechts gegenüber dem Verhältniswahlrecht ableiten. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt die Herausbildung zweier großer Parteien und ermöglicht damit eine Regierungsbildung ohne Koalitionen, d.h. ohne die Beteiligung kleinerer Parteien, die unter Umständen nur der Organisation sehr kleiner Verteilungskoalitionen dienen und folglich auf Kosten der Allgemeinheit höchst partikuläre Sonderinteressen vertreten.

      4. Kritische Anfrage: Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?

      Olsons Gesamtwerk ist außergewöhnlich ideenreich, und doch sind es relativ wenige – und zudem erstaunlich einfache – Kernüberlegungen, auf die sich Olsons Ideen zurückführen und damit auch systematisch rekonstruieren lassen. So jedenfalls lautet die der hier vorgeschlagenen Lesart zugrundeliegende These. Dem Beleg dieser These dient die Unterscheidung einer gruppentheoretischen, gesellschaftstheoretischen und staatstheoretischen ‚Logik‘ kollektiven Handelns sowie die graphische Illustration der jeweils primären Fragestellung in den Abbildungen 4, 5 und 6.

      Diese Abbildungen erfüllen aber auch noch einen zusätzlichen Zweck. Mit ihrer Hilfe lässt sich deutlich machen, dass Olsons Gesamtwerk eine interessante – und möglicherweise wichtige – Fragestellung nahezu völlig ausklammert, vgl. Abbildung 8. Die Rolle des Wettbewerbs – und insbesondere die Unterscheidung ruinöser und gemeinwohlförderlicher Konkurrenzprozesse – spielt in seinen Schriften kaum eine Rolle. Sie erscheint nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ – d.h. systematisch, kategorial bedingt – unterbelichtet. Hat Olsons ‚Logik‘ hier einen blinden Fleck? Folgende Hinweise mögen genügen, um die Frage und ihre Bedeutung zu verdeutlichen.

      Abbildung 8:

      Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?

      |61|(1) Bei Olsons Staatstheorie fällt auf, dass Autokratie und Demokratie den Quadranten III und IV zugeordnet werden. Das liegt an dem spezifischen Aspekt, unter dem sie betrachtet werden. Olson fragt nach dem unterschiedlich umfassenden Interesse der Herrschaftskoalition. Implizit wird Demokratie damit eingeordnet als eine Kooperationslösung, bei der die Mehrheit sich erfolgreich zu kollektivem Handeln organisiert. Der Unterschied zur Autokratie wird folglich daran festgemacht, dass es in einer Demokratie eine vergleichsweise größere Gruppe ist, deren Interessen durch die Regierung vertreten werden.

      Alternativ hätte es sich angeboten, Demokratie als eine politische Wettbewerbsordnung zu bestimmen. Aus einer solchen – Olson nicht unbedingt widersprechenden, aber doch signifikant anderen – Perspektive erscheint die parlamentarische Parteienkonkurrenz als das zentrale Merkmal. Unter diesem Aspekt wäre die Demokratie dem ersten Quadranten zuzuordnen. Das primäre Gegensatzpaar wäre folglich nicht Autokratie-Demokratie, sondern Anarchie-Demokratie, und der zentrale Unterschied läge somit nicht in einem mehr oder weniger umfassenden Interesse, sondern in einer mehr oder weniger funktionsfähigen Rahmenordnung für politischen Wettbewerb. Olsons Kategorien zur Analyse СКАЧАТЬ