Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies
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Название: Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

Автор: Ingo Pies

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная деловая литература

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isbn: 9783846345757

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СКАЧАТЬ Forderung bezieht sich auf die normative Analyse. Auch sie soll Wirtschaft und Politik gleichermaßen umfassen. Benötigt wird eine theoretische Konzeptualisierung, die es der konstitutionellen Ökonomik erlaubt, als Wissenschaft gesellschaftliche Regelverbesserungen zu identifizieren und vorzuschlagen.

      Während Buchanan in Bezug auf seine erste Forderung ein außerordentlicher Erfolg zu bescheinigen ist, wird man dies in Bezug auf seine zweite Forderung wohl eher nicht behaupten können. Während die Renaissance der ökonomischen Institutionenforschung – verwiesen sei hier nur auf die Namen Alchian, Coase, North, Olson und Williamson – dezidiert wiederanknüpft an das Erkenntnisprogramm der ökonomischen Klassiker, ist unter Ökonomen in Bezug auf normative Fragestellungen eine große Zurückhaltung sowie – vielleicht damit zusammenhängend? – ein starres Festhalten an einem normativen Effizienzbegriff und damit letztlich an wohlfahrtstheoretischen Kategorien nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch gerechtfertigt, vier verbreiteten Missverständnissen zu begegnen, denen sich Buchanans normatives Aufklärungsprogramm des Öfteren ausgesetzt sieht.

      Die Thesen können vorab wie folgt formuliert werden: Die Wahl des Konsenskriteriums folgt nicht vordergründig normativen, sondern methodischen Erwägungen. Es handelt sich um ein ‚realistisches‘, nicht-ideales Kriterium, um ein internes Prozesskriterium, und als solches erfüllt es eine heuristische Funktion, |32|die den Politikproblemen moderner Gesellschaften in besonderer Weise angemessen ist.[39]

      (1) Die konstitutionelle Ökonomik arbeitet mit einer mehrstufigen Rekonstruktion, die einen positiven Erklärungszusammenhang zwischen Ergebnissen, Handlungen und Regeln herstellt – genauer: zwischen gesellschaftlichen Ergebnissen, individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Regeln. Aggregierte Ergebnisse wie die Raten für Arbeitslosigkeit, Inflation, Kriminalität usw. werden im Wege einer ‚mikrofundierten Makroanalyse‘[40] als das nicht-intendierte Resultat intentionaler Handlungen rekonstruiert, und Handlungen erscheinen in einer solchen Betrachtung als (vor allem) durch Regeln kanalisiert. In normativer Hinsicht, im Konsensparadigma, gelten Handlungsergebnisse als legitim, wenn sie durch legitime Handlungen zustandekommen, und Handlungen gelten als legitim, wenn sie legitimen Regeln folgen. Diesen Regress kann man fortsetzen, indem man (legitime) Regeln als das (legitime) Ergebnis von (legitimen) Handlungen rekonstruiert, die legitimen Meta-Regeln folgen.

      Wenn man sich diesen Regress zur Analyse konkreter Politikprobleme zunutze machen will, darf man ihn nicht ad infinitum fortsetzen, sondern muss ein Kriterium angeben können, mit dessen Hilfe der Regress sinnvoll abgebrochen werden kann. Genau dies ist die methodische Funktion des Konsenskriteriums. Es zeichnet jene (Meta-)Regel als legitim aus, der unterschiedslos alle Bürger prinzipiell zustimmen können.[41]

      |33|(2) Gibt es überhaupt solche Regeln? Lässt sich das Konsenskriterium tatsächlich anwenden? Handelt es sich also um ein ‚realistisches‘, nicht-ideales Kriterium? Diese Fragen lassen sich eindeutig bejahen. Das Konsenskriterium lässt sich immer anwenden, wenn man die Abstraktionsebene nur hoch genug ansetzt: Konsensfähig in jeder Gesellschaft ist, dass Gesellschaft überhaupt zustandekommt. Im Hobbesschen Dschungel ist die Schaffung eines Rechtsstaats, der den Krieg aller gegen alle beendet, allgemein zustimmungsfähig, weil die Friedensdividende es erlaubt, alle besserzustellen. Der Verzicht auf das Hobbessche „Recht auf alles“[42] – insbesondere der Verzicht auf eigene Gewaltanwendung: die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols – ist eine Investition in das Zustandekommen von Gesellschaft, und es ist die Rendite dieser Investition, die es für jeden einzelnen vorteilhaft macht, die entsprechenden Kosten in Kauf zu nehmen. Ohne diese Kosten lassen sich die Erträge gesellschaftlicher Kooperation nicht aneignen.[43] Freiheit entsteht durch Leviathan. Aus dieser konstitutionellen Perspektive ist der Staat eine Organisation der Gesellschaft, die durch einen kollektiven Tauschakt zustandekommt, in dem die Option gesellschaftlicher Zusammenarbeit – inklusive miteinander integrierter Kooperations- und Konkurrenzsphären – ‚erkauft‘ wird durch einen sanktionsbewehrten Verzicht auf einzelne Handlungsmöglichkeiten, die dieser Zusammenarbeit nicht förderlich wären.[44] Freilich wird Freiheit durch Leviathan auch bedroht. Aufgabe einer klugen Verfassungsbildung ist es daher, erstens einen Staat überhaupt zustandekommen zu lassen und ihn zweitens so auszugestalten, dass er sich als ein Instrument zur Förderung der Gesellschaft als eines Unternehmens wechselseitiger Vorteilsgewährung bewährt.

      Wählt man niedrigere Abstraktionsebenen, so lässt sich das Konsenskriterium in Bezug auf genuin politische Probleme ebenfalls immer anwenden, sofern man nur sorgsam auf die relevanten Alternativen abstellt. Folgendes Beispiel macht das deutlich: Es lohnt sich nicht, einen Verbrecher zu fragen, ob er einen kriminellen oder eher einen gesetzestreuen Einkommenserwerb vorzieht, denn diese Frage ist durch sein Verhalten ja bereits faktisch beantwortet: Offensichtlich empfindet er es als individuell vorteilhaft, seinen Lebensunterhalt durch Gesetzesübertretungen zu bestreiten. Betrachtet man diesen Fall als ein Spiel, in dem der Verbrecher (A) gegen den Rest der Gesellschaft (R) spielt – vgl. Abb. 1 –, so wird der Status quo durch den II. Quadranten repräsentiert: Spieler A defektiert, er verletzt das Gesetz, während Spieler R kooperiert, d.h. das Gesetz achtet.

      |34|Abbildung 1:

      Die relevanten Alternativen im Konsenstest

      In dieser Situation hieße es nun, systematisch die falsche Frage zu stellen, wollte man Verhaltensänderungen einem Konsenstest unterwerfen. Konstitutionelle Ökonomik fragt nach der Zustimmungsfähigkeit von Regeln. Die systematisch richtige Frage muss daher auf die relevanten Regelalternativen abstellen. Sie lautet, ob Spieler A eine allgemeine Defektion einer allgemeinen Kooperation vorziehen würde. Genau dies ist natürlich nicht der Fall: Ein Verbrecher lebt davon, dass andere sich an das Gesetz halten. Würden auch alle anderen zu Verbrechern, so stünde er sich schlechter, als wenn alle Gesellschaftsmitglieder – einschließlich seiner selbst – das Gesetz befolgten. Die relevanten Alternativen, die es zu vergleichen gilt, bilden also nicht die Quadranten I und II, sondern die Quadranten I und III. Damit vergleicht man den Status quo minor mit einer pareto-superioren Alternative. Folglich fällt der Konsenstest eindeutig aus: zugunsten einer Regel, die für allgemeine Kooperation sorgt.

      Folgende Beispiele führen zu ähnlichen Ergebnissen: Ein Schwarzfahrer, vor die Wahl gestellt, in einer Gesellschaft zu leben, in der alle Bürger den Fahrpreis zahlen oder alle Bürger schwarzfahren, wird sich für ersteres entscheiden, weil es sonst keine öffentlichen Verkehrsmittel gäbe. Ähnliches gilt für einen Monopolunternehmer. Er kann dem Prinzip der Marktwirtschaft zustimmen, weil er lieber in einer Gesellschaft lebt, in der ausnahmslos alle Unternehmer unter Konkurrenzbedingungen handeln, als in einer Gesellschaft, in der alle Unternehmer Monopolisten sind. Der Grund hierfür lässt sich allgemein angeben: Wer als Trittbrettfahrer gesellschaftlicher Kooperation privilegiert ist, präferiert eine allgemeine Deprivilegierung gegenüber einer allgemeinen Privilegierung, d.h. einer allgemeinen Beeinträchtigung des Funktionierens gesellschaftlicher Zusammenarbeit.

      An diesen Beispielen lässt sich nicht nur demonstrieren, dass es – will man den Sinn konstitutioneller Konsenstests nicht verfehlen – in besonderer Weise darauf ankommt, die relevanten Alternativen, d.h. Regelalternativen, zu vergleichen. Die Beispiele zeigen auch, dass man zwischen empirischer und hypothetischer Zustimmung unterscheiden muss, weil Handlungsinteresse und konstitutionelles Regelinteresse auseinandertreten können: In sozialen Dilemmasituationen gibt es keine ‚revealed preferences‘; im Gegenteil. Diese Situationen sind ja gerade dadurch definiert, dass von ihnen Anreize ausgehen, die rationale Akteure veranlassen, sich so zu verhalten, dass sie ein pareto-inferiores Ergebnis erzielen, obwohl sie ein pareto-superiores Ergebnis vorgezogen hätten.

      |35|Aufgrund des möglichen Auseinandertretens von Handlungsinteresse und konstitutionellem Regelinteresse können empirische Meinungsbekundungen strategisch verfälscht sein, um eine eigene Privilegierung im Status quo möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eigeninteressierte Akteure sind hier versucht, auf Zeit zu spielen. Inwiefern ihnen dies gelingt, СКАЧАТЬ