Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ vollends zum blutigen Witz machend, als Machtkampf innerhalb der Partei.

      Hübsch die Beobachtung von einer Nebenspaltung der Partei in Planer und Beaufsichtiger: »Die Planer haben die Produktion zu planen, und die Beaufsichtiger einerseits die Proletarier, ob sie die Pläne im Sinne der Planer ausführen, andererseits die Planer zu beaufsichtigen, ob sie parteigemäß planen, was wiederum die Planer zwingt, die Beaufsichtiger zu beaufsichtigen, ob sie im Sinne der Partei oder in ihrem eigenen Sinne beaufsichtigen, ein ganzes System von Beaufsichtigern und Planern, bis hin zum obersten Beaufsichtiger und Planer, der als einziger Herr auf einer Pyramide von Knechten sitzt, wobei jeder Knecht die unter ihm befindlichen Knechte als Knechte empfindet und sich als Herr.«

      Es ist immer noch Dürrenmatts dramatisches Muster von der Welt als Irrenhaus (»Die Physiker«), wohinein sich ihm der Stoff wie von selbst füllt. Nicht realistische Züge: Waren es früher noch Klassiker-Interpretationskämpfe, mittels derer Machtkämpfe geführt wurden, so geriet Aufstieg zunehmend zur Treueprämie der jeweils höheren Türhüter, wodurch die gesamte Herr-Knechte-Verkettung zu einer Verkettung des Aufstiegs wurde. Das bekannte Regime der verwalteten Apathie entstand.

      Gorbatschow sei als »Arbeitsunfall des Politbüros« an die Spitze gekommen. »Zuerst wunderte er sich« – über die Stagnation. (Die von D hier verwendeten Zitate und die kategorialen Verdichtungen finden sich allesamt in meinem Buch.) Es folgt der Rückgriff auf den späten Lenin, der die Perestrojka zu einer »taktischen Maßnahme, die kommunistische Revolution in der Sowjetunion weiterzuführen«, habe machen sollen, wobei Gorbatschow aber übersehen habe, »dass der Kommunismus mehr ist als eine Ökonomie«. Das entgleist wieder. Hier schließt D sein mechanistisches und ökonomistisches Marx-Bild an. Die nie verstandene, aus Furcht vorm (technisch nicht besiegbaren) Tode motivierte Erfindung der Metaphysik, der Magie, der Religion, der Kunst, in einem Wort: der Kultur. Kant, der den Menschen zum Ärger Goethes für radikal böse gehalten habe, ist Dürrenmatts Held. Die Fiktionen sind notwendig, aber der Einsichtige muss nicht an sie glauben. Marx transponierte die Metaphysik in die Fiktion vom Klassenkampf, blieb ihr jedoch unbewusst immer verhaftet, war kein Revolutionär, das war Lenin. Marxens Theorie sei letztlich Religion. Hier bezieht D einiges ihm Passende von Künzlis unsäglicher Marx-»Psychographie«, etwa über angeblichen jüdischen Selbsthass.

      Mein Gott, ist eine solche Weltanschauung bequem! Und wie wohl sie aufgenommen wird von der erfreuten Umwelt der Herrschaftsinteressenten! Sie gibt den Freibrief, der den Zugang ins FAZ-Feuilleton gewährt. Aber unter ihrem Schirm gelangen auch Wahrheiten in die Zeitung, die denselben Interessen sehr unbequem sind: Den bundesdeutschen (parasitären) »Siegesrausch« – »die freie Marktwirtschaft wurde heilig gesprochen, das Wort Sozialismus verteufelt« – konfrontiert D mit dem Blick auf eine soziale Welt, die unserem physikalischen Weltbild gleicht: alles fliegt katastrophisch auseinander. »Wir bauen uns eine technische und ökologische Katastrophenwelt auf. Die Galaxis der Armut droht die unsere des Wohlstands zu durchdringen, die freie Marktwirtschaft beschwört Krisen herauf, Hochkonjunkturen dauern nicht ewig, sie saugen wie ein Schwarzes Loch die Ressourcen der Dritten Welt auf. Alte Nationen fordern wieder neue unabhängige Staaten, anderen droht der Untergang. Nie war der Hunger, das Elend und die Unterdrückung so groß, und schon droht im Golf ein Krieg, bei dem nicht für ein Ideal, sondern für Öl gestorben wird. […] Wir können uns im Chaos verlieren oder in eine höllische Ideologie zusammenstürzen, und die atomaren Waffen sind erfunden. Sie können nicht rückgängig gemacht werden.«

      Zurück zu Gorbatschow: Dürrenmatt sieht ihn einzig beim ersten Zug frei, aber das Bedeutende an ihm sei, dass er bei den folgenden Zügen von seinem Plan nicht abwich. Daher Auflösung des Ostblocks, Sturz der kommunistischen Regierungen. Die entprivilegierte KP »gleicht jetzt einer frei schwebenden Pyramide, die in sich zusammenfällt«. Selbstapplikation, paradox: »Die Perestrojka überwindet mit marxistisch-leninistischer Logik die marxistisch-leninistische Ideologie. Diese war eine Arbeitshypothese. Sie hat ihre Arbeit getan und kann fallen gelassen werden.«

      All das mündet in eine Apotheose Gorbatschows als eines praktisch gewendeten Kant: »Was wir brauchen, ist die furchtlose Vernunft Michail Gorbatschows. Was sie bewirken wird, wissen wir nicht, er steht der wirtschaftlichen und politischen Krise gegenüber, die er durch die Perestrojka hatte vermeiden wollen. Auch eine Scheinordnung, die zerstört wird, schafft eine Unordnung. Aber eine furchtlose Vernunft ist das einzige, was uns in der Zukunft zur Verfügung stehen wird, diese möglicherweise zu bestehen, uns, nach der Hoffnung Kants, am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen.«

      13. Januar 1991 (2)

      Truppeneinsatz in Litauen. – »Noch bevor Bagdad in Flammen steht«, wundert (entrüstet?) sich der ZDF-Kommentator. Es soll über zwanzig Tote gegeben haben, der erste ein sowjetischer Soldat mit einem Schuss im Rücken. Eine Parallele zu 1968, als die SU den britischen (?) Krieg gegen Ägypten für den Einmarsch in der ČSFR nutzte. Aber der Unterschied zu beachten: diesmal geht es um den Erhalt der SU selbst, und Gorbatschows Ultimatum, das dem Truppeneinsatz vorausging, verlangte die Wiederherstellung der Verfassungsordnung. Aber was weiß ich, vielleicht handelt es sich um großrussische Tricks, vielleicht spielt die Armee bereits mit. Die Sprecher des Westens, soweit sie heute vom ZDF gezeigt wurden, vermitteln den Eindruck, die Perestrojka sei beendet, eine neue Phase angebrochen. Ins Bild passt Schewardnadses Rücktritt.

      Aber seit Tagen liest es sich in der FAZ so: bislang war es im »deutschen« oder auch »westlichen« Interesse, Gorbatschow zu stützen, jetzt steht er im Wege. Dies, weil er sich gegen die Auflösung der SU wendet (wenden muss, auch im Namen des rechtsstaatlichen Universalismus).

      Von den überall in der BRD und sonstwo stattfindenden Demonstrationen gegen den Ölkrieg kein Wort im ZDF.

      14. Januar 1991

      Kommentar eines New Yorker Börsenmaklers zum Öl-Krieg. – »Dies ist der erste moderne Krieg, der nach dem Vorbild der Futures-Märkte geführt wird.« Er will damit sagen, dass morgen der Fälligkeitstermin sein wird.

      Litauen. – Der Militäreinsatz anscheinend vorbereitet von langer Hand und nach alten Mustern. Anzeichen: die Ersetzung des Innenministers Bakatin durch Pugo, Schewardnadses Rücktritt, die zeitliche Abstimmung mit dem Vortag des erwarteten Krieges gegen Irak. Jetzt nur mehr von halb so vielen Toten die Rede wie anfangs. Der nach Prunskienes Rücktritt gewählte neue Ministerpräsident über Nacht samt Familie verschwunden … Aber die Armee beherrscht das Feld nicht allein, Verfassungsorgane haben sich eingemischt. Das müsste im Sinne Gorbatschows sein, für den Gewalt nur als Rahmen für einen verfassungsmäßigen Rechtsstaat infrage kommt.

      Zu den Preiserhöhungen, die den unmittelbaren Anlass für die Chaotisierung der litauischen Politik gebildet hatten, finde ich in der FAZ die erhellende Bemerkung: »Wer nicht an Devisen gelangt, hat Schwierigkeiten. Deshalb die Proteste in Litauen: Die bis auf das Fünffache angehobenen Preise sind mit einem durchschnittliche Monatslohn, der bei 250 bis 300 Rubel liegt, nicht mehr zu bezahlen, sondern nur mit schwarz getauschter Fremdwährung.«

      Die geldzugewandte Seite der Welt. – Gestern ist Lothar Späth zurückgetreten, einer der fähigsten bürgerlichen Politiker. Er hatte sich so viele stattliche Zuwendungen von so vielen Kapitalisten machen lassen, dass es beim besten Willen nicht mehr unter »Persönliches« abgelegt werden konnte. Blendax, Grundig, SEL. Grundig etwa mietete für 500 000 DM eine Concorde für eine Ferienreise Späths nebst sieben Nahestehender in die Karibik. Die Zuwendungen anscheinend immer derart konsumtiv. Ein üppig-feudaler Lebensstil deutet sich an. Die FAZ dezent und spitz zugleich: »Späth konnte sich nicht der Täuschung hingeben, dass er als Person für all die Industriellen und Reichen so anziehend war, dass sie sich seinetwegen in Kosten stürzten.«

      15. Januar 1991

      Vor-Kriegszeit.

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