Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ Türpe eine Kritik meiner »Fragen zur Frage ›Was ist Philosophie‹«, die mir den Mund verschließt. Geschimpfe, engstirniger Missionarismus, was mir jäh klarmacht, dass die SED nicht nur von oben gebellt hat, sondern dass auch »heilige Überzeugungen« dahintersteckten. Auf »philosophischem« Gebiet taut hier unvermutet ein entwicklungslos eingefrorener Diskurs wieder auf. Ich soll also zum Schimpfen (Verletzen, Heruntermachen) verführt werden und will (wollte?) doch mit diesen Menschen zusammenarbeiten. Warum wollte ich mit ihnen zusammenarbeiten? In der Erwartung, dass es nun möglich würde, objektiv wie subjektiv, die unterlassene Diskussion befreiend nachzuholen, erneuernd in einem gemeinsamen geistigen Universum tätig zu werden. Nun gebärden die andern sich mir gegenüber wie gegen einen Feind, und es stellt sich heraus, wir haben kein gemeinsames Universum.

      In der DDR sei »die Philosophie« unterdrückt gewesen; meine Philosophie-Kritik nützlich für ihre Unterdrücker. – Der Mensch: das philosophische Wesen. Philosophie: nach Totalität fragen. – Operative Dialektik nicht als solche erkannt, man begnügt sich mit Dialektik als Gegenstand.

      Es lohnt nicht. Die Fehler ergeben kein Profil.

      16. Januar 1991

      Treffen unserer Ost-West-Forschungsgruppe »Philosophie im NS-Staat«. Monika und Benno feiern den Ast, auf dem sie zwar nicht sitzen, aber gerne sitzen würden. Es verhält sich bei ihnen umgekehrt wie bei dem Fuchs, der die unerreichbaren Trauben sauer nennt. Sie möchten die Unerreichbaren erreichen und nennen sie deshalb schon einmal süß, als kämen sie ihnen dadurch näher. Die Wesenskonzeption erlaubt ihnen die Erschleichung einer objektiven Unschuld. Die marxsche Kritik treffe nicht die »unsterbliche Seele der Philosophie«. Dagegen: Das Denken der Gesellschaft anstelle der prima philosophia.

      18. Januar 1991

      Krieg. – Verstört über den Krieg und die Mühe, ihn wahrzunehmen. Kriegsberichterstattung im BBC; schon heute früh triumphieren sie in Erwartung eines Blitzsieges. Zu früh. Aber gestern überall Demonstrationen. Erstaunlich die Schüler, die in Bonn und Berlin zu zehntausenden demonstrierten. Die USA, die die größten Interessen am Golf-Öl haben, wollten den Krieg und bekamen ihn. Auch die FAZ trieb zum Krieg. Doch brauchen unsere Regierenden eine ruhigere Umwelt für ihr derzeitiges Hauptprojekt, die kapitalistische Modernisierung und Integration der alten DDR.

      Michael Nerlich rief an und sprach über den Misserfolg im Krieg als moralleitenden Faktor. Der (schnelle, das ist wichtig!) Sieger wird recht gehabt haben.

      Aber da ist noch eine andere Seite der Sache, nicht die momentan dominierende, aber vielleicht langfristig entscheidend: Nachdem die Zweite Welt aufgegeben hat, sich als Festung dem kapitalistischen Weltmarkt und seinen Hegemonialmächten zu verschließen – wie könnte eine Dritte Welt da sich halten? Die UNO wird von der Kräfteverschiebung blindlings eingeholt: sie findet sich unversehens als Form für westlichen Inhalt. Eine List der Vernunft wäre es – aber das ist zu schön, um wahr zu sein –, würde die Form auf diesem Umweg letztlich doch noch bestimmend.

      *

      Radiodiskussion (in DS Kultur) mit Eberhard Fromm, Fiedler und Kapferer über Feindbilder der DDR-Philosophie. Kapferer hat lange vor dem Ende der DDR zu forschen begonnen: die Bornierung seiner Forschung kommt jetzt zupass, hat er doch den alten Hauptfeind der DDR-Ideologie weggelassen, das unreglementierte Denken, zumal das im Anschluss an Marx. Heute stört dieses die anderen schon wieder. Daher müssen die abgestandenen und mehr oder weniger reaktionären Positionen jetzt den Adelstitel erhalten, Hauptfeinde der DDR-Ideologie gewesen zu sein.

      20. Januar 1991

      Es arbeitet in der deutschen Sprache. Zwei Bruchstücke: FNL = die »fünf neuen Länder«; die »Wessies« als »Besserwessies«.

      22. Januar 1991

      Jo Rodejohann fordert mich auf, einen Appell von 166 russischen Intellektuellen zu unterstützen, worin es heißt, dass »der Präsident und das Parlament die Demokratie verraten«. In Reaktion auf den Armee-Einsatz in Vilnius: »Der Umsturz hat bereits begonnen. Wenn er gelingt, erwarten uns wieder Lager, Terror, Angst, Hunger und Ruin.« – Ich finde den u.a. von Juri Afanasjew unterschriebnen Text maßlos, ein Dokument von Realitätsverlust. Jo verharmlost, wenn er ihn »hart und bitter« nennt.

      23. Januar 1991

      Krieg. – Seit einer Woche grausige Unterhaltung, elektronische Spielhalle, rund um die Uhr über CNN. Im Schatten dieses Krieges zerbricht Gorbatschows Politik und Position, wie es scheint, unaufhaltsam. Schewardnadses Rücktritt war nur der Anfang, die Auflösung des Präsidialrats scheint die Fortsetzung beschleunigt zu haben. Ausgerechnet Schatalin formulierte gestern ein Ultimatum an Gorbatschow: entweder Rücktritt oder Bruch mit der KPdSU, Auflösung der Sowjetunion, ökonomischer Liberalismus. Juri Afanasjews Sprache »extremistisch«: Gorbatschow für ihn plötzlich ein Mann des Lagers, der Diktatur.

      Ich arbeitete derweil fieberhaft an Band 1 der Gramsci-Ausgabe, kam zu nichts anderem. Gestern, zum 100. Geburtstag Gramscis, lieferten wir die letzten Überarbeitungen ab, besprachen die noch offenen Fragen, stellten die Weichen für den Druck am Wochenende. Aber der Krieg und Gorbatschows Krise beherrschten alle Zwischenzeiten.

      Krieg. – Hauptüberschrift der heutigen FAZ: »Der Luftkrieg gegen den Irak ›ermutigend und insgesamt planmäßig‹«. Das verstehen sie unter Nachrichten. Das Wörtchen »insgesamt« steht fürs Scheitern der Blitzkriegshoffnungen. Israel konnte nicht geschützt, die Raketenwaffe des Irak nicht ausgeschaltet werden. Eine ungeheuer anschwellende Massenbewegung drängt andere arabische Staaten zum Kriegseintritt auf Seiten des Irak. – 20 Prozent der bekannten Ölreserven des Globus im Irak und in Kuweit. – Trotz Ungewissheit des Krieges steht der »Sieger« für die FAZ fest: die Hochtechnologie. An anderer Stelle wird deutlich, dass das nur ein Deckname ist für die Rüstungsindustrie. Beim Hersteller der »Patriot«-Raketen, mit denen man einige irakische Raketen hat abschießen können, der Raytheon Company, »sind inzwischen die Fertigungskapazitäten rund um die Uhr ausgelastet«. Aufwind fürs Rüstungskapital (Wehrtechnik), »nicht nur moralisch, auch wirtschaftlich«: an der Börse »die größte ›Rüstungshausse‹ seit dem Zweiten Weltkrieg«. Nachfrageschub aus dem In- und Ausland.

      26. Januar 1991

      Riesige Friedenskundgebung in Bonn. Nicht weniger als am Höhepunkt der Friedensbewegung. Diese also nicht verschwunden.

      Die Überdeterminierungen in der Konflikt- und Interessenlage bilden einen Knoten, der die Linke mitfesselt. Außer dass man den Krieg wegwünscht, keine klare Botschaft. Eines klar: die herrschende Weltunordnung fürs Weiterleben auf dem Globus tödlich. Andrerseits ordnet sich die Welt im Krieg auch um.

      Immanente Dummheit des US-Lagers: dass sie den Arabern nicht starke Angebote machen, also nicht etwa versuchen, die palästinensischen Interessen aus der Kriegsfront des Irak herauszulösen.

      28. Januar 1991

      Krieg. – Vereinzelte Zeugnisse eines unausdenkbaren Grauens des Golfkrieges, tote Kinder, im Ölschlamm eines tausend Quadratkilometer großen Petroleumteppichs verendende Vögel. Mit der Kriegslogik Vorherrschaft der Lügen & Zensur.

      Im letzten Quartal von 1990 ist das Sozialprodukt der USA offiziell um über 2 Prozent geschrumpft (Wachstum 1988: 4,5 %; 1989: 2,5 %; 1990: 0,9 %). Der Notenbankpräsident, Greenspan, verspricht in halbklaren Worten kriegswirtschaftliche СКАЧАТЬ