Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ verstand. Buhr schildert er als gespalten. Er sei halt auch Philosoph.

      Vom Sender in der Nalepastraße mit einem klapprigen Taxi, dessen Türgriff beim Zuziehen abging, über Köpenick nach Friedrichshagen, in einem immer noch fremden Land. An Michael Bries Wohnungstür steckte ein Zettel: »Bin kurz zum Arzt, 11h30«, und es war erst kurz danach. Ein kalter Regen ging nieder. Nachdem ich eine Weile fröstelnd den verhangenen Müggelsee und die riesigen Weidenbäume, die sich über ihn beugten, betrachtet hatte, flüchtete ich ins Treppenhaus, mit zweifelnden Gedanken an den, der mich doch herbestellt hatte. Etwas später erschien ein kleiner Junge, der artig Guten Tag sagte und die Tür inspizierte, bis er den Zettel entdeckte. Das war der achtjährige David Brie, dessen Schulklasse jetzt Schwimmen hatte, wovon er aber befreit war wegen seiner Hand. Er schob den Verband zurück, zeigte Verbrennungsnarben und erzählte den Hergang, wie er Rühreier hatte machen wollen und wie beim Einschlagen des Eis das siedende Öl auf die Hand spritzte, worauf er die Pfanne fallen ließ. Er bat mich herein, und ich durfte die von der glühend heißen Pfanne hinterlassenen Brandkerben auf dem Küchenfußboden besichtigen. David ließ sich nicht zweimal bitten, mir einen Kaffee zu brühen. Dann begann er, Schulaufgaben zu machen, während ich meine Zeitung las, verblüfft ob so viel Bravheit.

      Eine halbe Stunde später sah ich durchs Fenster, wie Micha Brie aufs Haus zuging, das Gesicht gotisch-holzgeschnitzt, momentan meinte ich den Schädel darunter zu sehen. Dann sitzt er mir gegenüber, und die Ausstrahlung ist wieder da.

      »Rein sachlich«, sagt er, sei seine Mitwirkung in der SED viel einflussreicher gewesen und belaste ihn viel mehr als die Mitarbeit bei der Staatssicherheit, zu der er sich 1976 oder 1977, er entsinnt sich nicht genau, nach Rückkehr aus der SU schriftlich verpflichtet hat. Er hatte so etwas wie Gutachten über Ausländer abzugeben, die Studienaufenthalte in der DDR absolvierten. Er habe nie jemandem geschadet, auch niemals über andere Personen aus seiner Umgebung berichtet, nie etwas gegen sein Gewissen getan, sei übrigens auch nie dazu angehalten worden. In den letzten Jahren habe er nur mehr seine eigene Sicht der Dinge mitgeteilt in Gestalt seiner Artikeltexte oder Redemanuskripte, die er – nachträglich – zur Kenntnis gab.

      Die offizielle DDR existierte auf drei Ebenen, mit denen, wer immer Verantwortung übernahm, unvermeidlich in Berührung kommen musste: die des Staates, die der Partei und die der Staatssicherheit. Sonderbare Verdreifachung aller Vorgänge. Spaltung und Selbstzweifel liefen quer zu diesen drei Ebenen durchs gesamte Gefüge, vor allem seit in der SU mit der Perestrojka begonnen wurde und sich herausstellte, dass die DDRFührung Reformbestrebungen zurückwies.

      Sachlich magst Du recht haben, ich glaube Dir jedenfalls, sage ich zu Brie, aber nach den groben Gesetzen von Politik und Medien ist Stasi-Mitarbeit ein Stigma, politischer Aussatz gleichsam. Hast Du nicht diejenigen gefährdet, die, wie Heinrich Fink, Deine Berufung zum Professor gefördert haben, dazu all die Gruppen, mit denen Du Dich seither eingelassen hast? Wie gehst Du damit um, frage ich, und ich frage gleichsam stellvertretend für solche Gruppen wie die Volksuni, nicht als moralischer Richter. M. wiederholt, der Sache nach seien seine Stasi-Aktivitäten harmlos gewesen. Er war vier Jahre im Hochschul-Ministerium tätig und kann nur sagen, dass nicht nur die drei Ebenen der Macht ineinandergriffen, sondern auch allein auf der staatlichen Ebene des Ministeriums viel bedenklichere Dinge sich abspielten. Im Übrigen habe er sich in dem Moment selbst angezeigt, als er für ein akademisches Amt vorgeschlagen wurde. Wichtig ist für ihn, dass seine eignen Studenten sich keineswegs von ihm abgewandt haben. Er möchte nun seinen Fall exemplarisch vor dem Ehrenausschuss der Universität behandelt haben. Der ASTA war schon bei ihm und wird sich in das Verfahren einmischen. Irgendwie muss die Universität, muss der gesamtdeutsche Staat mit der Stasi-Vergangenheit umzugehen lernen. »Du bist gut beraten«, schärft er mir ein, »wenn Du bei allen einigermaßen interessanten akademischen Intellektuellen jüngeren Alters entsprechende Aktivitäten unterstellst«, und ich beginne zu ahnen, wen er meint, ohne ihn zu nennen. Stattdessen nennt er J., der Ende der siebziger Jahre in Leipzig von der Stasi verhört wurde und dem sie so übel mitspielten, dass er von da an über sein oppositionelles Intellektuellenmilieu an sie berichtete. Sein eigner Fall ist dagegen viel leichter. Er ist überzeugt, der Hochschulminister Meyer habe von seiner Stasi-Aktivität gewusst, als er ihn ernannt hat.

      24. November 1990

      Im letzten »Freitag« spricht Katja Maurer skeptisch-bewundernd vom genialen Trick, mit dem Gorbatschow seine Umbauvorschläge (Präsidialregierung in einem Föderalstaat), die er vermutlich schon des längeren in der Tasche gehabt habe, just in dem Moment hervorzog, als er selbst verloren schien. Sie stellt es so dar, dass selbst Jelzin und andere Gegner nun wieder auf einmal nur von ihm erwarten würden, die nötigen Maßnahmen zum Durchstehen dieses Winters zu ergreifen.

      In derselben Nummer schreibt Thomas Rothschild über seinen »Akt« bei der österreichischen Staatssicherheit und über die Nachteile, die ihm daraus erwachsen sind. Gegen die öffentliche Heuchelei im Zusammenhang mit der Stasi. Gestern Abend eine ungewöhnlich offene, improvisierte, unkonsumistische Fernsehdiskussion, vom NDR in Leipzig organisiert, die sich u.a. damit befasste. Die kluge und humane Trauer der Revolutionäre vom Neuen Forum, die ihre Revolution verloren haben. Sie wissen auch, dass sie nicht die Urheber, sondern die Vollzieher waren.

      25. November 1990

      Gestern Besuch von Paulin Hountondji, der inzwischen Kultusminister seines Landes geworden ist. Er spricht von einem wilden Antisozialismus. Man schüttet jetzt das Kind mit dem Bade aus. Meine Formulierung, dass nun im Prinzip die Möglichkeit wiedergeöffnet sei, gefällt ihm. Er habe mich seinerzeit benutzen wollen, meine Marx-Interpretation gegen die herrschende ML-Ideologie ausspielend. Jetzt völlig unmöglich, Marx eine Ware, die niemand mehr kauft.

      27. November 1990

      Seit Sonntagnacht streiken die Reichsbahner; Frigga hatte größte Mühe, von Berlin wegzukommen. In der Berichterstattung ein auffallender Gegensatz zwischen den westlichen und den östlichen Medien. Im Westen wird die Erklärung der Regierung übernommen, aus der man den Eindruck gewinnen muss, bei der Reichsbahn werde im Vergleich zur Bundesbahn ein halb so großes Schienennetz von doppelt so viel Menschen betreut. In Wirklichkeit sind die Belegschaften nicht nur etwa gleich stark (je rund eine Viertelmillion), sondern es werden bei der Reichsbahn die gesamten Produktions- und Reparaturbetriebe mitgeführt, die man bei der Bundesbahn längst privatisiert hat und hier nun eben gleichfalls privatisieren will. Auch wird im Fernsehen verbreitet, die Reichsbahner verdienten eh schon mehr als die andern. Es wird kaum gesagt, dass dieses »Mehr« von Löhnen ausgesagt wird, die maximal 1500 DM betragen. Davon kann eine Familie in diesen Zeiten der Privatisierungen und Preiserhöhungen nicht annähernd normal leben, das ist unter der Armutsgrenze. Ich verstehe, dass es riesige Menschengruppen in der vormaligen DDR gibt, denen es noch schlechter geht. Aber hier hat sich zum allerersten Mal eine große Gruppe gewehrt, hat das angstschlotternde Sich-Anpassen unterbrochen. Man hielt es nicht mehr für möglich. In fast allen anderen Bereichen herrscht seit Monaten das Rette-sich-wer-kann. Nein, der Streik ist ein Glück, ein Zukunftsvitamin, das Beste, was seit den Demonstrationen vom letzten Herbst und den Runden Tischen passiert ist. Er kommt wenige Tage vor der Wahl. Und die Reichsbahn ist die einzige Branche in der vormaligen DDR, die gebraucht wird, deren Betreiber also überhaupt die Macht haben, wirklich zu streiken. Berlin ist jetzt auf dem Schienenweg abgeschnitten, wie seit der Blockade nicht mehr. Noch verkehrt die S-Bahn.

      Achtzigtausend sollten fürs Erste entlassen werden, und statt sich zu desolidarisieren, hoffend, es werde andere treffen, haben die Eisenbahner mit 97 Prozent für den Streik gestimmt, also für die kollektive Verteidigung: Die erste Forderung betrifft den Kündigungsschutz, der dem bei der Bundesbahn Üblichen angeglichen werden soll. Das verunmöglicht keineswegs Entlassungen, schützt nur die dienstälteren Kollegen, die auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chance mehr haben. Erst die zweite Forderung gilt dem Lohn und ist sehr maßvoll: hier will man die Hälfte СКАЧАТЬ