Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ wollen klar dagegen sein und erfahren uns verstrickt.

      Die FAZ dagegen auf ganz hohem Ross. Gestern zeichnete Reißmüller im Leitartikel Serbien »als Festung des Kommunismus, aus der sich vielleicht eines Tages im Zusammenwirken mit einer wieder zur alten Ordnung gebrachten Sowjetunion der Leninismus-Stalinismus in der östlichen Hälfte Europas aufs Neue ausbreiten ließe. Zu diesem Zweck lassen sie ihre Panzer auffahren. Die ersten Schüsse würden einen Krieg auf mitteleuropäischem Boden eröffnen.« – Man will vollends aufräumen.

      Verzweifelt bemüht sich Gorbatschow um einen neuen Unionsvertrag. Ich habe früher (wie er) übersehen, dass dies zu den Vorbedingungen der sozialökonomischen Umgestaltung gehört hätte. Ich habe immer verstanden, dass die politischen Reformen den ökonomischen vorausgehen müssten (natürlich Wechselverhältnis der Reformetappen in Politik und Ökonomie), aber auf die inneren Reformen blickend vergessen, dass auch ein solches »Innen« bei Lockerung der äußeren Zwangsfesseln erst geschaffen werden müsste. Jetzt wirkt Gorbatschow wie ein Gefangener seiner Gewaltapparate.

      Lese nun erst, was Gorbatschow am 28. November 90 bei einem Treffen mit »Kulturschaffenden« (u.a. mit Jewtuschenko) gesagt hat: Lockere Plauderei, bisschen philosophischer Würdezierrat (»die alten Griechen hatten wieder einmal recht: alles fließt, alles bewegt sich«). Dazwischen Protokollsätze wie Notschreie (»das ist eine schleichende Konterrevolution«) und jenes Bekenntnis zum Sozialismus, von dem ich seinerzeit in der Presse gelesen hatte, das er aber dadurch wieder in Luft auflöst, dass er sich mit dem spanischen Regierungschef Felipe González vergleicht, »einem ebenfalls überzeugten Sozialisten«. Zum Privateigentum sagte er: »Ich habe mich immer für Marktwirtschaft ausgesprochen und tue das weiter. Doch obwohl ich für Marktwirtschaft bin, akzeptiere ich beispielsweise kein Privateigentum an Grund und Boden. Machen Sie mit mir, was Sie wollen – ich akzeptiere es nicht. Pacht – selbst für hundert Jahre, sogar mit dem Anspruch auf den Verkauf und die Vererbung der Pachtrechte – bitte schön.« Das schützt selbstwirtschaftende Bauern und geht gegen Bodenspekulation. Ansonsten spricht sich Gorbatschow für Privateigentum in der Produktion aus, glaubt aber nicht, dass es dominieren wird bzw. dass seine Dominanz vom Volk hingenommen würde. Sonderbares Wischiwaschi: »Durch verschiedene Formen des Aktienbesitzes, durch Pacht und dann vielleicht durch vollen Erwerb wird der Betrieb zum Volkseigentum gemacht. Man (?) soll den Menschen (?) dieses Eigentum geben (?). Mögen sie es verwalten und über ihre (?) Produktion verfügen (?).« a) Wer ist dieses »Man«?; b) »Die Menschen« – welche? c) Verkaufen nicht = geben; d) Die Produktion eines Betriebs nicht = »ihre« (der Privateigentümer) Produktion; fehlen die Arbeiter; e) der Staat wird die Eigentümer (wie alle übrigen) doch wohl zur Kasse bitten, also einen Teil »ihrer Produktion« in Steuern verwandeln, über die sie mitnichten verfügen.

      Dann spricht Gorbatschow von Grenzen der Veränderung, Unantastbarkeiten, die er »letzte Bastion« nennt: »da darf man um den Tod nicht weichen, wie vor Moskau, wie vor Stalingrad.« Was er meint, ist die multinationale Gesellschaft der Sowjetunion. Soll etwa das Kriegspotenzial der Supermacht SU unter Nachfolgestaaten aufgeteilt werden?

      Auf die Genese der Perestrojka zurückblickend, erwähnt er einen Spaziergang mit Schewardnadse im Dezember 1984, wo sie sich darüber verständigt haben, dass »alles verfault« ist. Er nennt keinen anderen. Sah also den Rücktritt Schewardnadses wohl auch nicht voraus.

      6. Februar 1991

      Gestern kam ein junger Geophysiker (Lehmann) aus der vormaligen DDR, der seit vier Jahren in Leningrad studiert, in meine Sprechstunde. Er will zur Philosophie überwechseln. Erfährt sich im Vergleich zu den sowjetischen Studenten als mathematisch unbegabt, obwohl auch er von einem Spezialgymnasium kommt. Als sein Stipendium auf DM umgestellt wurde, kam das einer Verdreißigfachung gleich. Inzwischen sogar das Fünfzigfache. Durch den Einzug der 50- und 100-Rubelscheine sei das Vertrauen in die Währung vollends zusammengebrochen. Er glaubt nicht, dass diese Maßnahme irgendwie den Schwarzhandel trifft. Studieren würde er gerne bei Merab Mamardaschwili, wenn dieser nicht gestorben wäre. So höre ich zum zweiten Mal von diesem Tod, an den ich nicht glauben mag.

      Seit der Annexion Kuwaits im August 1989 sind 5–10 Mrd USD auf schweizer Banken verlagert worden. Bis September 1989 waren es schon 2,3 Mrd USD aus dem Nahen Osten. Dafür musste man die Wachstumsannahmen von 2 auf 1 Prozent halbieren.

      In der FAZ ein Artikel des Kölner Historikers Otto Dann über Ernest Gellners Nations and Nationalism von 1983, durchsetzt mit ›Gramscismen‹, ohne Gramsci zu nennen. Im Kern geht es um das Verhältnis von »Kulturgesellschaft« und »politischer Gesellschaft« als Schlüsselfrage der Nationalstaatsbildung. Mit der Verallgemeinerung der Schriftkultur im Zuge der Industrialisierung homogenisiert sich aus der agrargesellschaftlichen Heterogenität heraus die Kultur. Für Gellner ist dies der entscheidende Akt bei der Nationbildung. Die Nation ist nichts Naturales, betont er, basiert nicht auf einem Volk, sondern wird durch den Nationalismus erst geschaffen. Die Intellektuellen als Träger der Schriftkultur spielen dabei eine entscheidende Rolle. Gellners These: Nationalismus ist die adäquate Form für Kapitalismus. Dann verweist auf Benedikt Anderson, Imagined Communities, 1983. Für Otto Dann und die FAZ ein gefundenes Fressen, den Nationalismus aus dem Schatten des NS zu holen. Friedrich Meineckes »Kulturnation« wird wieder ausgegraben, ihre Kongruenz mit der »Staatsnation« zur strategischen Schlüsselposition erklärt.

      9. Februar 1991

      Enzensbergers Artikel über Saddam Hussein als »Hitlers Wiedergänger« (im »Spiegel« dieser Woche) führt die Sprache des Propagandisten, nicht des Intellektuellen. Hantiert mit unbezweifelbaren Eindeutigkeiten, kennt keine Überdeterminierung. Projiziert unwillkürlich. H. ist ein Vernichter; ergo ein zu Vernichtender. Dadurch der Diskurs zu einem Vernichtungsdiskurs geworden. H. »der Feind des Menschengeschlechts«. Ein anthropologisches Problem: die menschliche Natur selbst, ihre personifizierte Unmenschlichkeit. Totale Absage an Politik: »Keine denkbare Politik kann es mit einem Feind des Menschengeschlechts aufnehmen.« E. lässt die Logik der Endlösung in sich ein. – Mit Schrecken sehe ich, wie der Krieg den geschätzten E. um den Verstand bringt. Aber ich vermag mich nicht frontal gegen ihn zu stellen, abgesehen von der propagandistischen Wellenlänge. Denn zu den widersprüchlichen Bestimmungen dieses Krieges gehört auch die Parallele zum Nazismus. Freilich bildet E. auch diesen mythisch-geschlossen ab, als politisch verkörperten Todeswunsch.

      *

      Rainer Gruenter konstatiert die periodische Wiederkehr der »levée en masse in den Rückschritt«. Man könne heute »von einer Konjunktur des Schreckens sprechen«. Statt des apokalyptischen Reiters hat er den »apokalyptischen Anarchisten« im Visier. Nennt keinen. Als Begleitpersonal »die Verkäufer der Ängste«. »Epidemische Untergangssucht und Gewaltsympathie«. Es sei daher möglich, dass einer der »apokalyptischen Anarchisten« ein Super-Tschernobyl »als fundamentalistisches Warnspiel für eine ebenso unbelehrbare wie unersättlich weltverzehrende Menschheit inszenieren kann«. Im Zeitgeist und seinen typischen Gebilden werde dies vorangetrieben durch »eine pathologische moralische und geistige Ungeduld, die der heute von Historikern beobachteten Beschleunigung der Geschichtszeit« entspreche. In dieses Bild fügt sich Enzensbergers Husseinmythos. »Störend kann der despotische Diktator, können die Eliten, aber auch die machtlosen und machtverachtenden Minderheiten […] sein, die sich der Norm der anarchistischen Ungeduld widersetzen.« – Der Krieg ist los, die Krise kommt von überall her.

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      Gabriele Lindner hat sich heute vom Wörterbuchprojekt verabschiedet. Sie bringe es nicht zusammen mit den Belastungen des Moments. Fast alle, die nach dem Zusammenbruch der DDR zu uns gestoßen waren, sind inzwischen wieder verschwunden. G.L. grüßte von Otto Reinhold, der die Radiosendung über die DDR-Philosophie gehört hat und mir bestellen lässt, meine Äußerungen hätten ihm am meisten zugesagt. Ich ließ mir seine Telefonnummer geben.

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