Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ allzu spekulativ, heute darüber nachzudenken, ob zum Beispiel die baltischen Republiken in Zukunft ein so hohes Maß an politischer Souveränität bekommen werden, dass ihr Einschluss in die EG ernsthaft erwogen werden könnte.« Rückblick: »Während der letzten zwölf Monate waren wir vorrangig Beobachter, Zeugen einer kaum fassbaren Bewegung politischer Befreiung«. Diese Zeit sei vorbei, und Banker sowie Unternehmer sollen nun anpacken. Natürlich geht es ihnen um eitel Gemeinwohl.

      16. Dezember 1990

      Eine Gleitlandung von Ideen auf dem Boden von Tatsachen –

      Wie Botschaften aus dem Jenseits gelangen jetzt Besprechungen aus der vormaligen DDR an mich, in denen meine Arbeiten zum ersten Mal ernst genommen werden. So über das Gorbatschow-Buch im »Referateblatt Philosophie« 26 (1990) 2: »Angesichts der notwendigen revolutionären Erneuerung des Sozialismus in unserem Land ist die Lektüre der haugschen Arbeit dringend zu empfehlen.« Als das gedruckt wurde, war das bereits vergangen, abgetriebene Zukunft in der Vergangenheit.

      17. Dezember 1990

      Die USA auf dem Weg in die Wirtschaftskrise. Beschweren sich, dass ihre Verbündeten zu wenig für die Kriegsvorbereitung spendieren. Kosten weit über 35 Mrd USD.

      18. Dezember 1990

      Über 60 Prozent der Bevölkerung in der ehemaligen BRD halten die Wirtschaftslage für gut, 3 Prozent für schlecht. In der ehemaligen DDR halten über 60 Prozent sie für schlecht, 2 für gut. Das ist schlagend komplementär. Die Lage ist indes stabil, weil in der vormaligen DDR 60 Prozent daran glauben, dass es besser wird.

      Gewinner des Umbruchs ist zumal die Automobilindustrie (bzw. das Finanzkapital, soweit es jene kontrolliert). 1990 sind schon jetzt 1 Mio PKWs in die DDR verkauft worden, davon 1/5 Neuwagen; ich schätze, dass dadurch mindestens 12 Mrd DM in den Westen abgeflossen sind. Nun will VW 5 Mrd investieren bei Zwickau, während Mercedes mit 1 Mrd das Ifa-Werk in Ludwigsfelde bei Berlin zu »einer der größten und modernsten« Stätte für Lastwagenproduktion ausbauen will; BMW baut Karosserieteile in Eisenach; ebenda hat Opel die Produktion von 16 000 »Vectra« pro Jahr aufgenommen, investiert zusätzlich eine Mrd in ein neues Werk, das (mit 2600 Arbeitsplätzen) jährlich 150 000 PKW bauen soll, vorwiegend »Corsa« und »Kadett«. Schon jetzt unterhält Opel 350 Verkaufsstellen mit 9000 Angestellten in der DDR.

      Frontberichte in einer zügigen und enormen Eroberung: Die Deutsche Bank hat das Filialsystem der ehemaligen Staatsbank übernommen, wie die Großkaufhäuser die »Centrum-Warenhäuser«, BASF die Synthesewerke Schwarzheide. Unilever lässt in 7 Werken zu Lohnverhältnissen fertigen und möchte die Margarinewerke Pratau und Chemnitz übernehmen. Coca-Cola hat die Weimarer Getränke übernommen, Binding die Radeberger Brauerei sowie die Brauerei Krostitz bei Leipzig und über die Binding-Tochter Berliner Kindl die Potsdamer Brauerei und die Bürgerbrauerei in Berlin. Reemtsma übernahm VEV Tabak Nordhausen, Philipp Morris und Reynolds die andern beiden Zigarettenfabriken.

      Das Stasi-Stigma wirkt im Sinne der Übernahme. Man muss seine Wirkungsbedingungen und Effekte studieren.

      In England Stagflation: über 10 Prozent Inflation, »unternormaler« Auftragsbestand bei 54 Prozent der Firmen, steigende Arbeitslosigkeit.

      Bei uns werden anstelle von Steuererhöhungen allerlei Abgaben eingeführt (vor allem eine Straßenbenutzungsgebühr) sowie das Telefonieren verteuert.

      19. Dezember 1990

      Wieder einmal lugt ein Stückchen Wahrheit durch, gleich wieder verdeckt von taktischen Macht- und Meinungsspielen: »Denn so urgewaltig sich die Wende im letzten Herbst auch vollzogen haben mag, ohne die stillschweigende Duldung gerade dieser Kreise der Staatssicherheit wäre sie wohl kaum zu diesem glücklichen Ende gekommen.« (J. M. Möller im Leitartikel der FAZ) Die Rede ist von Leuten wie Markus Wolff. Es ist die Verdichtung von Wut gen gestern und Verzweiflung gen morgen, die sich unseren Herrschaften als Vehikel anbietet, um die DDR-Bevölkerung zu desartikulieren. Bei Möller taucht dieses Potenzial als »tiefer Pessimismus« auf, »der die Menschen in den neuen Bundesländern schon seit längerem erfüllt und der sie mittlerweile fast alles glauben lässt, was ihren düsteren Eindruck bestätigt«. Diese ins Negative sich stürzende Leichtgläubigkeit ist es, woran man das DDR-Volk jetzt vor allem hebelt.

      22. Dezember 1990, Los Quemados (La Palma)

      Hier wurzelt alle Ökonomie in der Ökonomie des Wassers. An der nötigen Infrastruktur der Bewässerung hat das Gemeinwesen seine Aufgabe. Alte Ordnungen der Verteilung der Ressource. Feudale und dann wieder (oder kombiniert) kapitalistische und Monopolansprüche beschworen Kämpfe auf Leben und Tod herauf. Einer der durch den Staat vermittelten Kompromisse besagt, dass an einer derartigen Anlage dem einzelnen Bauern so viel Wasser zusteht, wie er an einem Tag im Monat mit einem ausgehöhlten Kürbis schöpfen kann. Sie schöpften wie der Teufel, und der Erschöpfung kamen sie durch Nachbarschaftshilfe zuvor. – Koppelungsstelle zwischen Arbeitszeit und Gebrauchswert: ein Tagwerk Wasser.

      26. Dezember 1990

      Sonderbare Serie von Träumen. Gestern Nacht in einer Kirche, an die Zionskirche erinnernd, eine Podiumsdiskussion, bei der Alexander Dubček auftrat, in vornehm-wehmütiger Haltung von der Empore sprechend. Zwei Nächte träumte mir von Gysi. Es ging um irgendeine Unkorrektheit in seiner Partei, worüber eine Versammlung tagte; ich glaube, jemand hatte einen Handel mit Parteikrempel aus der vorigen Epoche aufgemacht, und Gysi sagte zu mir: »Einer hat halt immer die Hände unter der Decke.« Wieder eine Nacht zuvor HK, die ich aus einer Redaktionssitzung befördern musste, während sie sich, auf Kindsgröße schrumpfend, an mein Bein klammerte, wimmernd und feucht wie ein sexueller Kobold. Heute Nacht hatte man angesichts der Weltwirtschaftskrise den kühnen Entschluss gefasst, das gesamte Gewicht des Staates in die ökonomische Waagschale zu werfen, Krise und Bankrott gleichsam wegzugarantieren. Nachdem die Planwirtschaft zusammengebrochen und vom Privatkapitalismus vereinnahmt worden war, musste sie nun hinterrücks wieder eingeführt werden, als staatliche Trägerschaft der gesamten Wirtschaft, oberflächlich noch die bisherigen Formen weiter- und auslaufen lassend. Es war ein gigantisches und einmaliges Experiment, und ich hatte getan, was ich beim umgekehrten Vorgang bezüglich der DDR versäumt hatte: Beobachter animiert, die von überall her Material sammelten, um das Geschehen aufzuzeichnen.

      27. Dezember 1990

      Sonst träume ich monatelang nichts (zumindest erinnere ich mich nicht daran), jetzt allnächtlich. Diesmal von einem Kongress in Ost-Berlin, mit ehemaligen SEDlern, die noch benommen von der Katastrophe waren. Die emotionale Qualität ihres Zusammenhangs untereinander und mit der untergegangenen DDR.

      Ich habe es noch nicht im Ernst begriffen. Weltgeschichtliche Sackgasse? In den Träumen lernen die Emotionen.

      28. Dezember 1990

      Schlecht geschlafen und heftige Traumarbeit. Ein Unbewusstes, das zurande zu kommen versucht. Blutige Befreiungskämpfe in der Antike, aber am Schluss, unter den Linden, nach dem gerufen, der »das alles« verantwortet. Ein gründgenscher Conférencier inszenierte dessen Auftritt: Hitler! Aber Hitler war schwarz.

      In der zweiten Hälfte der Nacht im Traum mit Volker Braun sisyphusgleich am Staat gearbeitet.

      Tagsüber lerne ich Altgriechisch. Großes Bedürfnis danach. Wie ein Tor zu einem nächsten Lebensabschnitt. Es könnte der letzte sein.

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