Название: Jahrhundertwende
Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783867548625
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Laut Gorbatschows Vorschlag eines neuen Unionsvertrags wird UdSSR künftig »Union der souveränen Sowjetrepubliken« bedeuten. Das Sozialistische verschwindet aus dem Namen. Der Kongress der Volksdeputierten wird in dem Entwurf nicht erwähnt; daraus schließt Werner Adam ein bisschen sehr schnell, dessen derzeitige Sitzung könne die letzte gewesen sein. Außer Militär- und Außenpolitik soll die Unionsregierung »gemeinsam mit den Republiken die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und die Schaffung von Bedingungen zur Entwicklung eines unionsweiten Marktes auf der Grundlage einer gemeinsamen Währung« betreiben. Ein ungeheuer kompliziertes Mächtegerangel zwischen Republiken und Union zeichnet sich ab. Die Union verfügt noch nicht einmal über einen eigenen Unionsdistrikt wie die USA. Ein Verfassungsgericht soll die Konflikte schlichten. In den USA ist die heutige Struktur aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen. Ob ein neuer Bundesstaat ohne eine derartige Kriegsgeburt zur Welt kommen kann? Aber hier gibt es – vielleicht außer der Armee, deren Belastbarkeit aber höchst ungewiss ist – keinen Akteur, der den Nordstaaten entspräche.
29. November 1990
Gorbatschow hat die Reise zur Entgegennahme des Nobelpreises absagen müssen.
Mit Wanja von Heiseler telefoniert, der mich zu einem Seminar nach Moskau einlädt. Mit der Überzeugung eines Ordenspaters beschied er mich, dass die Unterscheidung zwischen ziviler und bourgeoiser Gesellschaft fehl am Platze sei. Dass es die Bürger (Bourgeois) waren, die das Konzept società civile eingeführt hätten, sei wesentlich. Ich verweise auf die koinonía politikè, das bringt ihn dazu, mich zu belehren, dass es im alten Athen Ware und Geld gegeben hat usw. Ich merke, dass ich keine Lust habe, solche Diskussionen zu führen, und mache meine Teilnahme an der moskauer Tagung davon abhängig, dass Leute eingeladen werden, die auf dem Feld mit nennenswerten Arbeiten hervorgetreten sind. Wanja bleibt ein marxistisch-leninistischer Ordensgeistlicher, grade auch in der Abkehr vom ML. Da macht sich ein Haltungselement vor aller konkreten Theorie und Politik geltend, das aus dem stalinschen Parteityp fortlebt.
1. Dezember 1990
Gorbatschow vorm ZK: Er habe die Bedeutung der Arbeiterklasse für die Perestrojka unterschätzt. Spricht sich kategorisch gegen die Privatisierung des Bodens aus.
Der Krieg gegen den Irak rückt näher. Der UNO-Sicherheitsrat folgte dem Antrag der USA, ein Ultimatum bis zum 15. Januar zu stellen.
3. Dezember 1990
Der Wahlausgang ein Schock. Für mich kam das Ausscheiden der Grünen aus dem Parlament völlig unerwartet. Großflächige Pechsträhne alles Linken. Die PDS wird nun die einzige Opposition links von der SPD sein. Nachdem sie bis zur letzten Minute mit Skandalkampagnen überzogen worden ist, ist es erstaunlich, dass die meisten ihrer Wähler, wenigstens in Ostberlin, an ihr festgehalten haben.
In England musste jetzt gerichtlich geklärt werden, dass dem Ausdruck Arbeiterklasse etwas Wirkliches entspricht. Es ging um einen Wohnblock, der 1937 zu einem symbolischen Zins dem londoner Gemeinderat verpachtet worden war unter der Bedingung, dass die Wohnungen Angehörigen der Arbeiterklasse zu vermieten seien. Die Politiker wollten die Wohnungen meistbietend verkaufen und vertraten die Meinung, der Ausdruck Klasse sei »widerwärtig«, und jene Bindungsklausel sei »verbraucht« und »wirkungslos«. Und war nicht im Wohnungsgesetz von 1925 festgelegt worden, zur Arbeiterklasse gehöre, wer wöchentlich nicht mehr als 3 Pfund verdient? Der Richter ließ sich vom Oxford Dictionary überzeugen, dass eine »Arbeiterklasse« existiert, solange es Menschen gibt, »die gegen Lohn in manuellen oder industriellen Berufen tätig sind«.
6. Dezember 1990
Zu untersuchen, wie das Streben nach Vergesellschaftung zu Verstaatlichung geführt hat.
7. Dezember 1990
Vor einem Jahr formulierte es der Vorsitzende ›meiner‹ Gewerkschaft (GEW), Dieter Wunder (in den Gewerkschaftlichen Monatsheften 12/1989): »Für die Gewerkschaften gibt es keinen Grund mehr, ihren Beschlüssen die Vorstellung einer alternativen Gesellschaftsordnung zugrunde zu legen – es gibt derzeit keine realistische Vorstellung einer wünschenswerten Alternative.« Als wäre in Gestalt der DDR eine solche wünschenswerte Alternative untergegangen! Das ist blanker Opportunismus. Dass es keine realistische Vorstellung gibt, stimmt, galt aber schon zuvor.
Die Rechtskonservativen machten ihr Dezemberheft von 1989 mit einer Grabinschrift auf: »Karl Marx – geboren 1818 – gestorben 1989«. Ich hatte immer geglaubt, er sei 1883 gestorben. Auch sie denken auf Staatsmacht hin.
Wie anders Georges Labica, der in der Zeitschrift »M« vom März/ April 1990 die Frage stellt: »Le communisme enfin possible?« Freilich tappen wir im Dunkeln, sehr weit weg von weitergehenden Hoffnungen auf Umgestaltung. Auch wenn im Kontext unserer Landesgeschichte, wie Ulrich Sonnemann Anfang des Jahres gesagt hat, »eine Volksrevolution, die eine Staatsmacht stürzt, nichts Geringeres als ein Novum von abenteuerlich befreiender Heiterkeit und Brisanz ist« (Diskus 1/90, 9). Jetzt scheint Bier- & Bananenernst an die Stelle getreten.
Auf solcherlei Gedanken komme ich, weil ich auf- und wegräume: das zur Verwendung im Perestrojka-Journal bestimmte Material, das liegen blieb und von immer neuem Material überschichtet wurde. »Eine Zeit des Umbruchs und der Erneuerung des Sozialismus in der DDR« – das waren die ersten Worte des Leitartikels von Gretchen Binus im Januarheft der IPW-Berichte. Blicke zurück, und du wirst zur Salzsäule.
8. Dezember 1990
Niederlage des Denkens überhaupt, wenn die Vorstellung einer Gedachten Gestaltung des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur (Produktion) und untereinander (Distribution) eine Niederlage erleidet.
9. Dezember 1990
Gorbatschow ist vorgestern im Kreml mit 3000 Direktoren sowjetischer Staatsbetriebe zusammengetroffen. Diese Leute anscheinend außer sich vor Zorn über die Perestrojka, die planlos begonnen worden sei und einen zerstörerischen Kurs eingeschlagen habe. Ryschkow bei diesen Personen offenbar anerkannt, Abalkin nicht. Gorbatschow wird vorgeworfen, zwischen den Fronten zu pendeln, statt »wirklich zu regieren«. Von immer mehr Seiten wird der Ausnahmezustand gefordert. Es sieht so aus, als sei die vormalige SU nun in der Hand von Warlords. Laut FAZ rückt Gorbatschow näher an KGB und Armee.
10. Dezember 1990
Große Ereignisse, wenn endlich eingetroffen, verschwinden in Banalität. Wahrnehmungsschwierigkeiten angesichts der Abrüstung Europas. Unbefangene Wahrnehmung unmöglich, weil die Veränderung von unseren Herrschenden als Landnahme nach einem Sieg praktiziert. Alles mit Zweideutigkeit geschlagen. Der latente Krieg gegen den Irak könnte die Form sein, in der die Vereinten Nationen das Zivilisationsmuster der Staatenbeziehung durchsetzen – oder die Form, in der die USA sich weiterhin (zu verschwendendes) billiges Erdöl verschaffen. Führende Leute der USA haben jedenfalls angekündigt, die Truppen würden auch nach einem Abzug des Irak aus Kuweit in der Region bleiben.
In der FAZ die Ansprache von Herbert Gottwald zur Wiedereröffnung des Historischen Instituts der Jenaer Universität. Der Untertitel definiert die Schuldigen: »Plebejer des Geistes degradierten die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR«. G. nutzt Jaspers Nachkriegsvorträge zur Schuldfrage als Matrix. Die »erzählende und orientierende« Funktion von Geschichte sei zu restituieren, »erzählend in dem Sinne, dass sie die Entzauberung der modernen Welt mit СКАЧАТЬ