Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ der zur Basis des Stalinismus werden sollte. Dieser zweite Flügel stützte sich auf die am meisten Unterdrückten und Verelendeten, deren »halbasiatische Kulturlosigkeit« Lenin charakterisiert habe (LW 33, 448). Scholochows Nagulnow (aus Neuland unterm Pflug) und Platonows Safronow (aus der Baugrube) seien literarische Repräsentanten dieses Typs. Die verblüffenden Erfolge, »im Oktober und im Bürgerkrieg, als sie nach allen bekannten Gesetzen des Kräfteverhältnisses nicht siegen konnten, aber siegten, festigten in ihnen den Glauben an ihre Allmacht« (211). (W. unterlässt es, auf Lenins hierzu stimmende Charakterisierung des Marxismus als »allmächtig« einzugehen.)

      Wo immer möglich, arbeitete Lenin auf Grundlage von Freiwilligkeit und Überzeugung. Aber das war der langsame Weg. Stalin repräsentierte den schnellen Weg. Und er hatte zunächst und immer wieder Erfolge. Wodolasow vergleicht sie mit Leistungen, die durch Doping erzielt werden, worauf ein langer Katzenjammer folgt. Jedenfalls wurde der Stalinismus, der den Begriff der »Volksfeinde« für seine realen oder imaginären Kritiker einführte, zum konzentrierten Volksfeind. Mit Marx (MEW 8, 199) charakterisiert W. die bonapartistischen Züge der Kulakenverfolgung. Bürokratie sei »zur adäquaten sozialen Basis des Stalinismus« geworden, heißt es, den Begriff der Klassenbasis verkürzend, wie es vielleicht ja wirklich der Fall war. Die Theorie wird nun zu einer »sorgfältig durchdachten reaktionären Doktrin«. Interessant die Annahme, »dass der Hauptinhalt des Kampfes und der Repressalien der 30er Jahre (den vielleicht die Teilnehmer selbst nicht ganz erfassten) in der Konfrontation des ›bürokratischen‹ und des ›volkstümlichen‹ Stalinismus bestand.« Den letzteren überwinde man dadurch, dass die Menschen in demokratischen Praxisformen ihre Kraft erführen, wodurch es möglich werde, die Bürokratie zu überwinden, »ohne auf die mythische Kraft einer starken Persönlichkeit zu vertrauen« (219).

      Chruschtschows Scheitern wird – ganz in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Kapitel (9.3) meines Gorbatschow-Buchs – herangezogen, um die Notwendigkeit der Entfesselung eines revolutionären Prozesses der Perestrojka gegen absolutistische Vorstellungen zu verteidigen. Die gegenwärtige Krise dieses nun tatsächlich entfalteten Prozesses wird nicht mitgedacht.

      15. November 1990

      Das eigne Projekt ›historisch‹ zu betrachten, ist gefährlich. Gefährlich nicht nur für die emotionale Hülle, die nun als Illusionsblase durchschaut wird, sondern wegen der gefährlichen Metastasen des Jetzt. Die »Illusionslosigkeit« gerät zur Illusion zweiten Grades, die das Totenreich auf Erden immer schon vorwegnimmt.

      Historisch betrachtet wäre anzunehmen, dass »Marxismus« wie jede andere »Philosophie« nur als Staatsideologie zu dauern vermöchte. Freilich nicht als Ideologie eines bestimmten Staates, sondern als Ideologie einer bestimmten Staatlichkeit, Politik im antiken Sinn. Konkrete Politik würde dann von den Adepten daraus abgeleitet und von den Machtinteressenten damit legitimiert.

      *

      In Thomas von Aquins Summa theologica lesend, diesem in die große Erzählung zwischen Exitus und Redditus eingebauten System aller erdenklichen Zweifel und ihrer definitiven Beantwortung, scheint es mir, dass dieses Genre der Traum der marxistisch-leninistischen Handbuchschreiber und ihrer Auftraggeber war.

      16. November 1990

      Svetlana und Alexander Askoldow werden sich als Gäste der Akademie der Künste für einige Monate in Berlin aufhalten. Gestern Abend statteten wir ihnen einen ersten kurzen Besuch ab. Der Schrecken und die Angst des sowjetischen Zerfalls sprechen aus ihnen. Schon an der Wohnungstür hörten wir, dass es in Moskau kein Salz und keine Streichhölzer mehr gibt.

      Frigga bemerkte die mimetische Sprechweise von Alexander, der mit den Händen gestaltet und nicht nur mit dem Gesicht, sondern mit dem ganzen Körper ausdrückt, was er sagt. Vielleicht desto mehr, als er weiß, dass wir kaum russisch verstehen und auf die englische Übersetzung Svetlanas angewiesen sind.

      Sie machen Gorbatschow zum Clown, sagte er. Alles, was Gorbatschow tut, ist von vorneherein durchkreuzt. Die heutige, vom Obersten Sowjet gegen Gorbatschows Willen verlangte Rechenschaft erwarten sie mit hoffnungsloser Verzweiflung.

      Jelzin schildern sie als ziemlich üblen Demagogen, der auch im Alltäglich-Mitmenschlichen mies sei, wie im Suff jederzeit herauskomme. Wir verstehen nicht nur Kritik an J., sondern spüren wieder einen Hauch vom heillosen Auseinanderfallen, das derzeit für die russischen Verhältnisse so charakteristisch ist. Die Askoldows deuteten sogar eine Art von »Verrat« seitens Jakowlews an, weil dieser mit Jelzin nach dessen Parteiaustritt gesprochen und ihm die Hand gedrückt habe.

      Als ich Alexander das »Perestrojka-Journal« überreiche und erkläre, was ich darin versucht habe, sagt er mehrfach, er hätte ähnliches tun müssen, Theorie und Interpretation aufschiebend, einfach täglich verzeichnen, was geschieht.

      17. November 1990

      Telefonisch von Irene D. die Nachricht, Michael B. habe sich vor seiner Fakultät als Stasi-Mitarbeiter (seit 1977) offenbart. Lähmungsgefühle.

      Gorbatschow scheint eine Woche Aufschub gewonnen zu haben. Sein Schachzug: eine Art Länderkammer (Aufwertung des »Föderationsrates«) als Vorgriff auf einen neuen Unionsvertrag. Er spricht von Machtkampf. Der BBC-Kommentator heute früh sagte, Gorbatschow habe seine Grenze erreicht, bis wohin man mit ihm »Reformen« machen könne. Er sei eben doch ein Kommunist.

      19. November 1990

      Gorbatschows »Überraschungsmanöver« bestand darin, dass er sich die Unionsregierung unterordnen will, wie das in den USA der Fall ist. Das läuft auf Entlassung von Ryschkow hinaus. Der Föderationsrat soll durch ein interrepublikanisches Komitee unterstützt werden. Der Präsidialrat soll durch einen Sicherheitsrat ersetzt werden. Die alte Idee einer Kontrollbehörde, die in allen Republiken Stützpunkte erhalten und die Verwirklichung von Gesetzen garantieren soll, taucht wieder auf. Eine weitere Sonderbehörde beim Präsidenten soll sich mit Schwarzmarkt und Kriminalität befassen. Die Rede, in der Gorbatschow dieses Konzept vorstellte, dauerte nur 10 Minuten, im Gegensatz zu der anderthalbstündigen Eröffnungsrede, worin er nichts Neues gesagt hatte.

      Jetzt wird anscheinend spekuliert, dass Sobtschak eine führende Stellung in der neuen Exekutive bekommen soll.

      Gestern am ehemaligen DDR-Fernsehen, jetzt DFF 1, zufällig eine Diskussion über Anna Seghers gesehen, offenbar ausgelöst durch eine Bücherverbrennung, der ihr Werk zum Opfer gefallen war und durch Kampagnen zur Umbenennung von Straßen usw., die ihren Namen tragen. Verzweifeltes Aufbäumen der DDR-Schriftsteller, den Platz ihrer Literatur verteidigend. Die Frage, warum die Seghers im Janka-Prozess geschwiegen hat. Es wurde angedeutet, dass unter Angst. Eine Sendung, die bereits wie aus einer anderen Zeit wirkt und gewiss nicht mehr lange erlaubt sein wird. Zeigt eine tiefe Verletzung.

      23. November 1990

      Rundfunkdiskussion (in DS Kultur) mit Träder und Kapferer, moderiert von der wackeren Ulrike Bürger. Ob der Marxismus eine Sackgasse der Menschheitsentwicklung. Man müsste so viele Gleichungen des Tages aufsprengen: Marx = Marxismus, Marxismus = Marxismus-Leninismus, diktatorischer Staatssozialismus = Sozialismus.

      Ich habe ja Marxismus gleichsam in der Fernuniversität studiert, nämlich auf Distanz bei Abendroth, Adorno, Benjamin, Bloch, Brecht, Gramsci, Horkheimer, Lukács.

      Träder (von Buhrs Institut) hat in Leipzig bei Wittich studiert. Das Argument und das Wissen, dass es im Westen eine lebendige marxistische Tradition СКАЧАТЬ