Название: Im Januar trug Natasha Rot
Автор: Manfred Eisner
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783960085959
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„Moin, Anne!“ Nili hängt ihren mit Fell gefütterten Regenmantel und die nass gewordene wollene Pudelmütze in den Kleiderschrank. „Ein scheußliches, nasskaltes Wetter ist dies!“ Sie holt ihren Becher mit der Aufschrift ‚Mi querido tinto‘ (Mein geliebter Schwarzer), den sie von Leutnant Sandra García in Kolumbien zum Abschied geschenkt bekommen hat, aus ihrer Plastiksteige und geht an die Kaffeemaschine. „Darf ich?“
„Nur zu, Nili, jede von uns kauft abwechselnd ein Pfund Darboven’s Classic, in Ordnung?“
„Aber natürlich.“ Nili nickt. „Ich bin einverstanden, der schmeckt wirklich gut.“
„Und ist obendrein noch magenfreundlich!“
„Was soll ich tun, Anne? Um die Wahrheit zu sagen, ich habe von dem hier“, sie zeigt auf den Aktenstapel, „überhaupt keine Ahnung.“
„Das hatte als Anfänger hier auch so gut wie niemand, Nili. Macht dir keinen Kopf. Schnapp dir einfach die oberste Akte und fang an zu lesen. Darin steht so manches, und wenn du nicht weiterkommst, frag einfach. Dann sehen wir gemeinsam rein, okay?“
Nili folgt Annes Ratschlag. Der erste Fall befasst sich mit einer Reihe von zuletzt Geschädigten des infamen „Enkeltricks“. Das Schema ist immer das gleiche: Die meist alleinstehenden Senioren erhalten einen Anruf von einer Person, die sich ihnen als ihr Enkel oder ihre Enkelin ausgibt. Den Namen erfahren die Gangster meistens vom Geschädigten selbst, der so in etwa fragt: „Bist du das, …?“, worauf der Anrufer dies nur bejahen muss und über den Namen im Bilde ist. Ahnungslos werden die alten Menschen manches Mal um ihr gesamtes Sparvermögen betrogen, wenn sie, nachdem sie von der Notlage oder der einmaligen Kaufgelegenheit des Verwandten erfahren haben, zur Bank gehen, das benötigte Geld abheben und dies dann aufgrund verschiedener Tricks oder sogar durch gewaltsamen Raub an die Verbrecher verlieren. Trotz wiederholter Warnungen der Polizei, des Fernsehens und in Zeitungen fallen immer wieder hilflose alte Menschen den in der Türkei, Rumänien oder Bulgarien beheimateten Banden zum Opfer. Die Geldabholer – angeblich ist der betreffende „Enkel“ beziehungsweise die „Enkelin“ in diesem Moment ernsthaft verhindert – schnappen sich die Beute und verschwinden spurlos jenseits unserer Grenzen. Zu fassen, wenn überhaupt, sind lediglich die Handlanger, die nur in den seltensten Fällen irgendwelche nützlichen Angaben zur Verfolgung der Übeltäter in ihren Heimatländern preisgeben.
Nachdem Nili das Dossier durchgelesen hat, fragt sie: „Also, Anne, was mache ich jetzt mit dieser Enkeltrick-Akte? Ist doch ziemlich hoffnungslos, das Ganze. Und ich glaube kaum, dass wir hier etwas Wirksames unternehmen können, oder?“
Anne reicht ihr ein Formblatt über den Tisch. „Hast recht, Nili. Bitte Aktenzeichen, die Schadensummen, sofern sie erfasst wurden, und die Anzahl der Fälle hier eintragen. Das Blatt voran ablegen. Aktendeckel in die Post zur Auswertungsstelle.“
„Und was wird aus den armen Opfern?“
„Die schauen traurig in den Mond, was sonst?“
Und so geht es in etwa weiter, ein Aktenzeichen nach dem anderen. Allesamt Fälle von Betrug, versuchter Geldwäsche, Übervorteilung, Unterschlagung, veruntreuten Geldsummen, Abzocke und so weiter.
Dann läutet das Telefon. Anne nimmt das Gespräch entgegen. „Für dich!“, sagt sie dann und schwenkt den Apparat zu Nili hinüber.
„Hi, Nili, hier ist Kriminaloberkommissarin Hink von der Blumenstraße, erinnerst du dich noch an mich?“
„Natürlich, Steffi, wie geht es dir? Was kann ich für dich tun?“
„Hättest du ein wenig Zeit, um kurz zu uns rüberzukommen? Es geht um den Einbruch bei Thomas Greve in der Hofstraße. Wir haben von KOK Lattermann von eurer abendlichen Exkursion erfahren. Sicher kannst du uns ein wenig weiterhelfen.“
„Natürlich gern, wenn ich hier mal kurz wegdarf?“ Sie richtet einen fragenden Blick an die Kollegin.
Anne Engel schaut auf ihre Uhr. „Ist sowieso kurz vor Feierabend, mach einfach Schluss für heute.“
„Okay, bin in einer halben Stunde bei euch, in Ordnung?“
„Prima! Danke, Nili, bis gleich!“
Steffi und Sascha erwarten sie am Eingang der Kieler Bezirkskriminaldirektion. „Trinken wir einen Kaffee?“, fragt Steffi. Sie gehen die wenigen Schritte bis zum Café Resonanz in der Mittelstraße. „Wie ich schon am Telefon sagte, wurden wir von den Kollegen vom Einbruch bei Thomas Greve in der Hofstraße eingehend informiert. Lattermann bemerkte, dass du Greve aus der Schulzeit kanntest?“
„Ja, in der Tat.“ Während sie ihren Cappuccino schlürfen, erzählt Nili, dass sie gestern mit ihrer Freundin Melanie Westphal – die sie ja vom Mordfall des Bruders auch kennen und bei der sie im Hause wohnt – zu Abend gegessen hat und diese das Verschwinden ihres Angestellten erwähnte. Sie rief dann bei Thomas’ Eltern in Sankt Margarethen an, aber diese wussten ebenso wenig über den Verbleib des Sohnes. Darauf beschlossen sie, ganz spontan mal in dessen Wohnung nachzusehen, und stellten dabei den Einbruch fest. Sie alarmierten dann sofort die Polizei.
Steffi lächelt. „Okay, so weit die offizielle Version. Und was war da noch? Wir wissen, Melanie und du wart in Begleitung von Waldi Mohr dort, stimmt’s? Er war es immerhin, der bei Lattermann anrief und den Einbruch meldete.“
Nili fühlt die starke Hitze, die an ihren Ohren emporsteigt. Nur gut, dass sie die Wollmütze darüber aufhat. „Na ja, stimmt, hatte ich das nicht bereits erwähnt? Habt ihr übrigens schon eine Spur von Thomas?“
„Leider nein, deswegen führen wir ja dieses Gespräch.“
Nili überlegt einen Moment, greift in ihre Manteltasche und holt die in Klopapier eingewickelte Haarbürste hervor. „Hier, vielleicht hilft euch das weiter. Fragt mich bitte nicht, warum ich sie an mich genommen habe, es war eine automatische Eingebung, aber ich musste auf die Toilette, und als ich da saß, fiel mein Blick auf diese Bürste. Vielleicht könnt ihr mit der DNA etwas anfangen.“
Sascha fixiert Nili. „Danke, könnte uns vielleicht weiterhelfen. Hast du noch etwas für uns?“
Nili überlegt rasch, wie weit sie ihre Kollegen einweihen darf. „Mm, ja. Jetzt, wo du fragst, Sascha. Vor etwa zwei Wochen rief mich Thomas auf meinem Handy an. Er meinte, er habe da etwas Sonderbares bei einem der Kanzleimandanten entdeckt und wolle sich mit mir, allerdings wegen der ihm gebotenen Schweigepflicht nur ganz inoffiziell, beraten. Ich war damals sehr beschäftigt, also vereinbarten wir, dass er mich Anfang Januar nochmals anrufen würde, was allerdings bis heute nicht geschehen ist.“
„Ist das alles?“
„Ich wüsste wirklich nicht, was da noch sein könnte“, schwindelt sich Nili haarscharf davon.
*
Äußerst gespannt СКАЧАТЬ